Seit das Oberlandesgericht Hamm in seinem Beschluss vom 27. September 2011 (Aktenzeichen: I-27 W 106/11) seinen grundsätzlichen Segen zur Abhaltung „virtueller“ Mitgliederversammlungen erteilt hat, kommt die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen einer Mitgliederversammlung ohne physische Anwesenheit der Mitglieder in Gang, wie das lebhafte Interesse von Verbandsgeschäftsführern bei der letzten Sitzung des DGVM-Kollegenkreises Köln/Bonn gezeigt hat.
In der Tat hat die Idee, die Mitgliederversammlungen nur noch „virtuell“ abhalten zu können, einen unzweifelhaften Charme, lassen sich doch auf diese Weise die nicht unerheblichen Kosten einer „physischen“ Mitgliederversammlung in vollem Umfang einsparen. Über diesen Vorteil freut sich insbesondere der Verein, der in dem Entscheidungsfall über das Registergericht obsiegt hat. Das Vereinsregister hatte im konkreten Fall die „virtuelle“ Mitgliederversammlung als unwirksam angesehen.
Die Entscheidung des OLG Hamm
Das OLG Hamm sah den Fall anders. Um die Entscheidung des OLG jedoch richtig würdigen zu können, muss man erst einmal den entschiedenen Einzelfall kennen.
Der beschwerdeführende Verein hatte sich im Vorfeld gründlich überlegt, wie er eine solche „virtuelle“ Mitgliederversammlung satzungsmäßig verankern wollte. Er gestaltete seine Satzung zu diesem Zweck mit folgender Formulierung um:
§ 11 Mitgliederversammlung
Der Vorstand lädt unter Angabe der vorläufigen Tagesordnung mit einer Frist von vier Wochen zur Mitgliederversammlung per E-Mail an die letzte vom Mitglied dem Vorstand mitgeteilte E-Mail-Adresse bzw. auf ausdrücklichen Wunsch des Mitglieds, das über keinen eigenen Internetzugang verfügt, per einfachen Brief postalisch. Für die ordnungsgemäße Einladung genügt jeweils die Absendung der E-Mail bzw. des Briefes. Die Mitglieder können binnen zwei Wochen die Aufnahme weiterer Punkte beantragen; in eiligen Fällen kann der Vorstand eine Tagesordnung festsetzen, ohne Gelegenheit zur Aufnahme weiterer Punkte zu geben. Verspätet eingegangene Anträge finden keine Berücksichtigung. Der Vorstand kann hiervon Ausnahmen machen, wenn die Verspätung genügend entschuldigt wird oder andere Gründe, insbesondere die Verfahrensökonomie, die Aufnahme des Punkts rechtfertigen. Der Vorstand entscheidet nach billigem Ermessen.
Die Mitgliederversammlung erfolgt entweder real oder virtuell (Onlineverfahren) in einem nur für Mitglieder mit ihren Legitimationsdaten und einem gesonderten Zugangswort zugänglichen Chat-Raum.
Im Onlineverfahren wird das jeweils nur für die aktuelle Versammlung gültige Zugangswort mit einer gesonderten E-Mail unmittelbar vor der Versammlung, maximal 3 Stunden davor, bekannt gegeben. Ausreichend ist dabei die ordnungsgemäße Absendung der E-Mail an die letzte dem Vorstand bekannt gegebene E-Mail-Adresse des jeweiligen Mitglieds. Mitglieder, die über keine E-Mail-Adresse verfügen, erhalten das Zugangswort per Post an die letzte dem Vorstand bekannt gegebene Adresse. Ausreichend ist die ordnungsgemäße Absendung des Briefes zwei Tage vor der Mitgliederversammlung. Sämtliche Mitglieder sind verpflichtet, ihre Legitimationsdaten und das Zugangswort keinem Dritten zugänglich zu machen und unter strengem Verschluss zu halten.
Vorstandsversammlungen und Versammlungen der ordentlichen Mitglieder können ebenfalls online oder in Schriftform erfolgen.
Das OLG Hamm hat diese Satzungsregelung für ausreichend gehalten. Es meint, dass das Vereinsrecht – in Ausfüllung der Vereinsautonomie – keinen bestimmten Modus der Willensbildung vorschreibt. Auch das Aktien- und Genossenschaftsrecht ermögliche eine Rechtewahrnehmung und Willensbildung in elektronischer Form (§ 118 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 AktG, § 43 Abs. 7 GenG).
Etwaige Benachteiligung von Mitgliedern
Das OLG Hamm beleuchtete vor allem zwei Punkte kritisch: die Gewährleistung, dass ausschließlich Mitglieder sich an der „virtuellen“ Versammlung beteiligen, sowie eine etwaige Benachteiligung von Mitgliedern, die nicht über einen Computer bzw. Internetabschluss verfügen.
Beide Punkte sind rechtlich äußerst problematisch. Die Zugangsmöglichkeit für Vereinsfremde ist bei dem gewählten Verfahren nicht gesichert. Zwar ist es im Ansatz richtig, einen gesonderten Zugang für die Mitglieder einzurichten, in denen sie sich erst kurz vor Beginn der „Mitgliederversammlung“ mittels eines Passwortes einwählen können. Die Nichtweitergabe des Passwortes ist aber letztlich nicht nachprüfbar. Das OLG bezeichnete es als ausreichend, dass die Mitglieder satzungsmäßig zur Nichtweitergabe der Zugangsdaten verpflichtet sind. Genügt dies aber wirklich, um die Mitdiskussion und Abstimmung durch Nichtmitglieder zuverlässig auszuschließen? Es bleiben Zweifel.
Noch problematischer erscheint der Umgang mit Vereinsmitgliedern, die nicht „netzkompatibel“ sind. Es soll ja immer noch Leute geben, die mit Computern nicht umgehen können oder wollen und die keinen Internetzugang haben. Das OLG geht über diesen Einwand kühl hinweg und verweist darauf, dass ein Verein nicht einem beliebigen Personenkreis offenstehe. Schließlich gebe es ja auch öffentliche Internetzugänge, auf die solche Mitglieder in zumutbarer Weise zugreifen könnten.
Auf die Verbandswelt nicht übertragbar
Diese Ausführungen des OLG lassen sich wohl kaum verallgemeinern. Der Streitfall war insofern besonders gelagert, als der Verein in seiner Satzung festgelegt hatte, dass er seinen Zweck „insbesondere durch Präsenz im Internet“ verwirklichen wolle. Das könnte den Schluss nahelegen, dass nur internetaffine Menschen Mitglied dieses Vereins wurden. Eine solche Annahme lässt sich aber auf die allgemeine Verbandswelt nicht ohne Weiteres übertragen. Die beschriebene satzungsmäßige Verwirklichung des Vereinszwecks per Internet ist vielmehr absolut untypisch und nicht auf die große Masse der Verbände 1:1 zu übertragen.
Hinzu kommen praktische Bedenken hinsichtlich der Ausübung des Rederechts, insbesondere bei mitgliederstarken Personenverbänden. Wenn jeder mitredet – was vereinsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden ist -, ist die Dauer der virtuellen Mitgliederversammlung nicht absehbar, selbst bei zeitlicher Beschränkung des Rederechts. Wie soll der Versammlungsleiter mit diesem Problem umgehen? Ein rein praktisches Problem liegt ferner darin, dass sich das Ergebnis von Abstimmungen wegen der nicht absehbaren Zahl der Teilnehmer in keiner Weise vorhersehen lässt. Das ist zwar „basisdemokratisch“, aber aus Sicht der Verbandsführung schwer handhabbar.
Insgesamt ist eine gewisse Skepsis angesagt, ob sich die „virtuelle“ Mitgliederversammlung – trotz unbestreitbarer Kostenvorteile – in der Praxis in größerem Umfang durchsetzen wird.