„Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld“, sagt der Aufseher zu Josef K., der sich gegen ein ihm völlig unverständliches Strafverfahren wehrt, „es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, den Sie im Übrigen machen.“ Diese Szene aus Franz Kafkas „Der Prozess“ enthält mehr praktische Hinweise, als die surrealistische Romanhandlung vermuten lässt. Jedenfalls dann, wenn ein Verband es mit einer Krise zu tun hat. Verteidigungsreflexe – so menschlich sie sind – können dann großen Schaden anrichten.
Rückblick: Im Februar 2010 dringen heikle Interna aus dem Deutschen Fußball Bund (DFB) an die Öffentlichkeit. Ein Bundesliga-Schiedsrichter wirft einem hohen Verbandsfunktionär vor, er habe ihn sexuell belästigt. Zwei Tage später tritt der Funktionär von seinen Ämtern zurück. Der Verbandspräsident kommentiert den Rücktritt in einem Sinne, der von der Öffentlichkeit als Schuldzuweisung interpretiert wird. Dieser Akt markiert keineswegs das von den Verantwortlichen wahrscheinlich erhoffte Ende der Debatte, sondern facht sie erst richtig an. Prominent berichten die Medien wochenlang über gegenseitige Vorwürfe, über Gerichtsverfahren und Talkshow-Auftritte der Protagonisten. Die Situation gerät außer Kontrolle.
Was ist schiefgelaufen, was daran ist symptomatisch für Verbände? Tatsächlich birgt die Organisationsform des Verbandes spezifische Risiken in Krisensituationen. Um dies herauszuarbeiten, muss zunächst einmal definiert werden, welche besonderen Anforderungen in einer Krisensituation an eine Organisation und deren Management gestellt werden. Dem werden organisatorische Voraussetzungen der Verbände gegenübergestellt, spezifische Risiken herausgearbeitet und Lösungsansätze abgeleitet.
Anforderungen des Krisenmanagements
In der Krise gerät eine gesamte – komplexe – Organisation schlagartig unter das Mikroskop. Jede ihrer Bewegungen wird überempfindlich wahrgenommen. Entscheidungen müssen in kürzester Zeit unter äußerem Druck und verzerrter Informationslage getroffen werden. Das erfordert klare Verantwortlichkeiten, eindeutige Verfahren und eine konsistente Interessenlage, um die Situation bewältigen zu können.
Typische Verfahrensanleitungen für solche Fälle finden sich in Organisationsanweisungen für die Stabsarbeit: „Nur wenn alle Kräfte schnell, planvoll und koordiniert zusammenwirken und ein einheitliches Führungsverständnis haben, ist ein wirksames und effizientes Krisenmanagement möglich“, heißt es etwa in einschlägigen Verwaltungsvorschriften für den Katastrophenschutz. Zu diesem Zweck werden die normalen Verfahren der Linienhierarchie zeitweise außer Kraft gesetzt und ein Stab mit zentralen Kompetenzen wird installiert. Entscheidend für die Zusammensetzung dieser Stäbe ist, dass alle relevanten Funktionen darin vertreten sind und in den hochverdichteten Entscheidungsprozess einbezogen werden. In öffentlichen Krisenstäben sind -dies neben Polizei, Gesundheit und Umwelt grundsätzlich auch die Pressestellen, um Einschätzungen über Wirkungen auf die Öffentlichkeit zu integrieren, siehe Abbildung 1 auf Seite 15.
So zweckmäßig diese Regeln definiert sein mögen – sie sind völlig nutzlos, wenn sie nicht angewendet werden. Einer Krise kann nur wirksam entgegentreten, wer sie zunächst einmal erkennt und dann auch feststellt. Deshalb sind die Festlegung von Verantwortlichkeiten und die Definition des Zustandes, z. B. die Entscheidung „ob eine Katastrophe vorliegt“, ein zentrales Anliegen der einschlägigen Regelungen.
Organisatorische Voraussetzungen der Verbände in Krisen
Wie sind nun Verbände mit Blick auf diese Verfahrensanforderungen disponiert? Kehren wir zurück zum Beispiel DFB.
Verantwortlichkeits- und Verfahrensprobleme
Die Krise ist nicht erst in dem Moment eingetreten, in dem sie öffentlich wurde. Sie begann faktisch, als sich der betreffende Schiedsrichter mit seinen Vorwürfen an den verantwortlichen Verbandsfunktionär wandte. Um die Tragweite noch einmal zu verdeutlichen: Der Vorwurf, aus der Hierarchie des Sportverbandes heraus Nachwuchstalente sexuell zu nötigen, tangiert praktisch alle ethischen Normen der gesamten Organisation. Fußball ist in Deutschland die populärste Sportart mit enormer öffentlicher Breitenwirkung. Sport gilt als egalisierender und sinnstiftender gesellschaftlicher Faktor, Sportsgeist und Fairness als moralische Kategorien, an denen auch Vereinsorganisationen gemessen werden. Die Vorwürfe sind – auch intern – für den Verband von existenzieller Bedeutung.
Dies wäre also bereits der Moment gewesen, auf Leitungsebene den Krisenzustand festzustellen und angemessene Verfahren einzuleiten. Üblicherweise bedeutet dies zunächst, den Sachverhalt intern (bzw. extern, wenn im Binnenverhältnis die Unparteilichkeit nicht glaubwürdig abgebildet werden kann oder Verdacht auf strafrechtliches Handeln vorliegt) unparteiisch aufklären zu lassen und dabei allen Beteiligten Gehör zu gewähren.
Bereits in dieser frühen Phase droht Verbänden das Scheitern an der eigenen Organisation. Ihre konsensorientierten Willensbildungssysteme verfügen selten über eine Kultur der offenen Auseinandersetzung mit Problemen. Derjenige, der ein Problem konstatiert, nimmt das Risiko persönlicher „Kontamination“ durch den kritischen Sachverhalt auf sich. Es will also strukturell eigentlich niemand die Krise feststellen bzw. diesen Schritt verantworten. Erschwerend kommt hinzu, dass in repräsentativen Organisationen tendenziell informelle Machtstrukturen formale Kompetenzen überlagern und die Beziehung der Beteiligten nicht vorrangig professionell geprägt ist. Affekthandlungen werden dadurch begünstigt.
Die Voraussetzungen, eine Krise zu erkennen und festzustellen, damit zielgerichtet reagiert werden kann, sind in Verbänden ungünstig. Sie bergen in ihrer Organisationsform ein besonderes Risiko frühzeitiger Handlungsunfähigkeit oder des Verlusts der Initiative.
Interessenkollisionen
Die Krise drohte vom ersten Moment an, die Reputation des DFB nachhaltig und schwerwiegend zu beschädigen.
Was ist in dieser Situation das vordringliche Interesse der Organisation? Hauptinteresse des Verbandes ist schlicht, die öffentliche Debatte so schnell wie möglich zu beenden. Ziel ist es, den Schaden für die Reputation zu begrenzen und anschließend die Initiative zurückzugewinnen. Beenden oder zumindest kanalisieren lässt sich die Debatte üblicherweise, indem man ein koordiniertes Verfahren einleitet und bis zu dessen Abschluss nicht mehr auf Einzelheiten eingeht. Dazu gehört strengste Disziplin aller Beteiligten gegenüber der Öffentlichkeit.
Deckt sich dieses Organisationsinteresse mit denen der Protagonisten? Sie sehen sich subjektiv – jeweils mit unterschiedlichen Akzenten – einem Angriff ausgesetzt und sind in ihrer persönlichen Integrität empfindlich berührt. Für die Betroffenen steht ihre individuelle Reputation an vorderster Stelle. Dabei sind sie dem Reflex ausgeliefert, alles zur Verteidigung ihrer Ehre zu unternehmen, was ihnen möglich erscheint – zur Berichtsfreude der Medien.
Krisen können also sehr schnell massive Interessenkonflikte zwischen der Verbandsorganisation und einzelnen Repräsentanten erzeugen. Diese Repräsentanten sind deutlich schwieriger zu disziplinieren als etwa in einem hierarchisch gegliederten Unternehmen oder einer Behörde, wo abhängig Beschäftigte zum Beispiel durch arbeitsrechtliche Verpflichtungen stärker gebunden sind als ehrenamtliche Vertreter, siehe Abbildung 2.
Wechselwirkungen
Verbände stehen in der Auseinandersetzung mit Krisen vor strukturellen Problemen: Die organisatorischen Rahmenbedingungen erschweren, die Krise festzustellen und geeignete Verfahren einzuleiten. Interessenkollisionen zwischen Organisation und betroffenen Mitgliedern bzw. Persönlichkeiten unterlaufen ein konsistentes Verhalten gegenüber der Öffentlichkeit.
In der Konfrontation mit der modernen Mediengesellschaft multipliziert sich die Wirkung dieser Eigenschaften. Medienexperten haben empirisch belegt, dass unter anderem die Kriterien Konflikt und Personalisierung bei der journalistischen Themenauswahl in den zurückliegenden Jahren bedeutender geworden sind. Können Verbände nicht verhindern, dass interne Konflikte öffentlich ausgetragen werden, bieten sie sich für die kritische Medienbegleitung regelrecht an.
Medien haben aus ihrer eigenen -Logik heraus ein Interesse, den Konflikt zu schüren, um innerhalb der Lebenszeit des Themas laufend neue Akzente setzen zu können. Sie folgen dabei bestimmten dramaturgischen Regeln. Nebst der Anrufung externer Meinungsbildner („Experten“, Aufsichtsbehörden, „Watchdog-Organisationen“ etc.) gehört dazu die (durchaus provozierende) Befragung von Anspruchsgruppen wie z. B. der Mitgliederbasis. Zudem werden die einzelnen Konfliktparteien von unterschiedlichen Medien animiert, ihren Standpunkt jeweils dort pointiert vorzutragen und damit entsprechende Reaktionen der Gegenseite zu provozieren. Die Betroffenen sind in ihrer psychologischen Ausnahmesituation meistens nicht imstande zu erkennen, dass dieses „Unschuldsgelärme“ niemandem nützt außer den Medien.
Dieses Gebaren der Medien zu kritisieren, ist zwecklos. Auch das Abbilden von Konflikten und deren unterschiedlichen Standpunkten gehört letztlich zu ihrer gesellschaftlichen Kritik- und Kontrollfunktion. Fruchtbarer ist es, den Blick darauf zu richten, wie die Organisation ihr eigenes Verhalten so koordinieren kann, dass den Medien möglichst wenig Gelegenheit zur Berichterstattung gegeben wird.
Lösungsansätze
Es wurde am Beispiel DFB deutlich, dass die Krise faktisch bereits eingetreten ist, bevor sie öffentlich wurde. Für die Organisation ist in diesem Moment entscheidend, ein geordnetes Verfahren einzuleiten, um die Initiative in der Hand zu behalten und die Beteiligten zu integrieren, um eine öffentliche Eskalation zu vermeiden.
Dazu muss zunächst das haupt- wie ehrenamtliche Führungspersonal in der Lage sein, die Tragweite kritischer Situationen realistisch einzuschätzen und abseits persönlicher Bindungen die Krisensituation überhaupt festzustellen. Soweit sich dies intern abzeichnet, verantwortet es die Leitung der jeweils betroffenen Organisationseinheit, die Geschäftsführung rechtzeitig zu informieren und den Bedarf des Krisenmanagements anzuzeigen (Initiativpflicht). Tritt die Krise erstmals durch äußere Interventionen von -Medien zutage, liegt diese Initiativpflicht beim Kommunikationsverantwortlichen.
Die Geschäftsführung beruft kurzfristig die zu beteiligenden Bereiche ein, um nach dem Vorbild der o. a. Stabsverfahren die Situation zu beurteilen. Hilfreich sind dabei klassische deduktive Verfahren der Entscheidungsvorbereitung nach dem Muster Sachverhalt – Bewertung – Handlungsoptionen – Entscheidungsvorschlag.
Wird festgestellt, dass es sich um eine Krise handelt, sind Verfahren und Federführung festzulegen. Niemand kann von einem Verband erwarten, dass ein ebenso brisanter wie schwer zu beweisender Vorwurf, der nachhaltige Auswirkungen auf persönliche Existenzen haben kann, innerhalb von ein oder zwei Tagen abschließend geregelt wird. Realistisch ist ein Bedürfnis der Öffentlichkeit und der Betroffenen, dass die Organisation die Angelegenheit ernst nimmt und ein geordnetes Verfahren zur Aufklärung einleitet.
Tatsächlich bietet das Verfahren für alle Beteiligten einen gewissen Schutz. Nicht umsonst endet der Informationsanspruch der Medien gegenüber Behörden beispielsweise in den Landespressegesetzen am „schwebenden Verfahren“. Auch wenn Journalisten diesen Begründungszusammenhang nicht besonders schätzen: Gegen die rechtsstaatliche Logik, dass eine öffentliche Diskussion von Einzelheiten eine unvoreingenommene Untersuchung beeinflussen könnte, lässt sich wenig einwenden. Allerdings muss das Verfahren in einer angemessenen Frist zu einem Ergebnis führen, gegebenenfalls auch zu Sanktionen und schlüssigen Maßnahmen, die einer Wiederholung vorbeugen.
Die Linie, dem Abschluss des Verfahrens nicht durch die Erörterung von Einzelheiten vorzugreifen, ist unbedingt durchzuhalten, um den Medien keine neuen Anlässe für Folgeberichterstattung zu liefern. Dies hat nur dann eine Chance, wenn die Betroffenen trotz ihrer Ausnahmesituation motiviert sind, sich in das Verfahren zu integrieren. Ihnen muss also plausibel werden, dass der Reflex, ihre Interessen im Alleingang zu vertreten, im Verhältnis viel höhere persönliche Risiken für sie birgt. Sie müssen darauf vertrauen können, dass das Verfahren grundsätzlich ergebnisoffen ist, dass ihnen in diesem Verfahren Gehör gewährt wird und dass die Organisation auch für denjenigen, dem eine Verfehlung attestiert und gegebenenfalls sanktioniert wird, eine -Begrenzung des Schadens anstrebt.
Dabei ist ein solides und möglichst einfach aufgebautes Krisenhandbuch sicherlich hilfreich. Es lässt sich wirksam integrieren, wenn es durch haupt- und ehrenamtliche Fach- und Führungskräfte in repräsentativer Zusammensetzung erarbeitet, in Gremien erörtert und durch Beschlüsse legitimiert wird.
Das beste Handbuch nützt aber nichts, wenn das Führungspersonal nicht in der Lage oder motiviert ist, eine Krise im entscheidenden Moment zu erkennen, festzustellen und Verfahren einzuleiten. Krisenmanagement in Verbänden setzt also zunächst an der Führungskultur und der Qualifizierung der haupt- und ehrenamtlichen Führungskräfte an, etwa:
- Öffentlich gewordene Krisen anderer Verbände aus aktuellem Anlass auf Gremiensitzungen erörtern bzw. gemeinsam analysieren.
- Denkbare Krisenszenarien des Verbandes als Übung in Gremien oder als Workshop auf Verbandstagungen realistisch durchspielen.
- Führungskräften Kameratrainings mit Statement-Übungen kritischer Situationen anbieten.
Insbesondere auf Routinesitzungen und -tagungen bieten derartige Programmpunkte eine willkommene Abwechslung.