Dass 70 bis 80 Prozent der nationalen Gesetzgebung ihren Anfang in Brüssel nehmen, ist längst eine Binsenweisheit. Weniger bewusst ist vielen Verbänden, dass die auf EU-Ebene festgelegten Rahmenbedingungen für immer mehr Branchen von einer fast existenziellen Bedeutung sind.
So plant beispielsweise die EU-Kommission, die vertikale Integration der Energiewirtschaft aufzubrechen. Kraftwerke und Stromnetze sollen künftig nicht mehr vom selben Unternehmen betrieben werden. Man muss kein ausgewiesener Branchenexperte sein, um zu erkennen, dass damit der Kern des Geschäftsmodells getroffen wird, auf dem der Erfolg der großen Energieversorger bisher beruhte. Gleiches gilt für das Vorhaben der EU, die Preise für mobiles grenzüberschreitendes Telefonieren in Europa — die so genannten Roaming-Gebühren — qua Verordnung drastisch zu senken. Bisher machten Roaming-Gebühren einen beträchtlichen Anteil der Erträge vieler Mobilfunknetzbetreiber aus. Setzt die Kommission ihre Pläne durch, werden die Anbieter ihre Strategien deutlich anpassen müssen. Wie auch immer die Diskussionen ausgehen mögen: Für die Energie- und die Mobilfunkindustrie brechen „dank“ Brüssel härtete Zeiten an.
Weil dies so ist, braucht effizientes Lobbying ein funktionierendes Frühwarnsystem in Brüssel. Noch wirkungsvoller ist es natürlich, wenn es der Industrie gelingt, sich gleich zu Beginn eines neuen Gesetzgebungsverfahrens in die Beratungen einzubringen. Immerhin: In Brüssel ist es inzwischen Standard, schon bei der Erstellung von Grünbüchern und anderen richtungsweisenden Dokumenten die betroffenen Branchen in Konsultationsprozesse einzubeziehen. Durch die Partizipation am Gesetzgebungsverfahren von Anfang an können Unternehmen und Verbände das nötige fachliche Know-how einbringen und dadurch jedenfalls punktuell verhindern, dass ihre Geschäftsmodelle unterminiert werden. Unstrittig ist demnach, dass Unternehmen und Verbände einen wachsenden Anteil ihrer Lobbying-Ressourcen in Brüssel (bzw. Straßburg) einsetzen müssen.
Verzahnung Berlin-Brüssel als Königsweg
Parallel zur EU-Ebene darf die heimische Politik gleichwohl nicht vernachlässigt werden. EU- und nationale Ebene verhalten sich vielmehr wie kommunizierende Röhren zueinander. Wirkungsvolles Lobbying muss diese beiden Ebenen gleichzeitig im Blick haben. Denn nicht selten wird ein Thema — wenn auch mitunter zeitversetzt — sowohl in Deutschland als auch in Europa behandelt. Um ein Beispiel zu nennen: Ende 2006 hat der Deutsche Bundestag das Telekommunikationsänderungsgesetz verabschiedet und damit die Umsetzung des 2002 festgelegten EU-Rechtsrahmens für Telekommunikation abgeschlossen. Parallel dazu hat die EU aber schon Ende 2005 damit begonnen, genau diesen Rechtsrahmen einer gründlichen Revision zu unterziehen. Ein Interessenvertreter der Telekommunikationsindustrie muss(te) demnach über Monate beide Politikebenen gleichzeitig bearbeiten, und dies mit jeweils unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten.
Die „Kunst“ der Public Affairs besteht nun darin, beide Ebenen so zu adressieren, dass sie die jeweils andere positiv beeinflussen. So ist es im Jahr 2006 der deutschen Medienbranche gelungen, im Ringen um die so genannte Fernsehrichtlinie der EU frühzeitig Bundestag und Bundesrat für dieses Thema zu sensibilisieren. Obwohl die Umsetzung auf nationaler Ebene noch weit in der Zukunft lag, trug die Medienindustrie mit entsprechenden Stellungnahmen ihre Position an die deutsche Regierung heran und beeinflusste so zumindest indirekt die Entscheidungsfindung im EU-Ministerrat. Das Beispiel zeigt, wie die nationale Ebene genutzt werden kann, um letztlich Druck auf Brüssel auszuüben.
Den umgekehrten Weg gehen aktuell die Wettbewerber der Deutschen Telekom im Streit um das VDSL-Netz. Der Ex-Monopolist will einen Milliardenbetrag in den Aufbau dieses neuen Hochgeschwindigkeitsdatennetzes investieren. Dafür will ihm die Große Koalition „Regulierungsferien“ zugestehen, also die Möglichkeit, das neue Netz bis auf weiteres keinem anderen Unternehmen zugänglich machen zu müssen. Auf Bundesebene verhallte der Protest der Wettbewerber weitgehend ungehört — was nicht allzu sehr verwundert, da der Bund weiterhin Großaktionär der Telekom ist. Anders dagegen in Brüssel: EU-Kommissarin Viviane Reding stellte sich auf die Seite der Wettbewerber und kündigte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die geplante Regelung an, weil sie darin einen Verstoß gegen geltendes EU-Recht sieht. Hier wird mit offenkundigem Erfolg der Weg über Brüssel gewählt, um letztlich „zu Hause“ etwas zu bewegen. Die „Verzahnung“ zwischen Berlin und Brüssel ist somit entscheidende Grundlage für erfolgreiche Public Affairs, wenn nicht sogar ihr Königsweg.
Informationsmanagement im digitalen Zeitalter
Bei der Entwicklung verzahnter PA-Strategien können Verbände eine Vorreiterrolle übernehmen. Sie stehen in kontinuierlichem Kontakt mit der Politik, erfahren frühzeitig von neuen Entwicklungen und können die jeweilige Branche entsprechend mobilisieren. Gleichzeitig nehmen sie eine wichtige Koordinierungsfunktion ein, indem sie die notwendigen brancheninternen Debatten anstoßen, gemeinsame Positionen ausloten und Lösungsvorschläge an die Politik erarbeiten. Gerade auf EU-Ebene, wo nicht nur unterschiedliche Stakeholder-Interessen, sondern auch die nationalen Spezifika von 27 Mitgliedsstaaten miteinander in Einklang gebracht werden müssen, leisten Branchenorganisationen einen wichtigen Beitrag zur Konsensfindung. Europäische Dachverbände werden oftmals gezielt eingeladen, bei Anhörungen oder Expertenworkshops eigene Lösungsansätze vorzustellen, die von der Bandbreite ihrer Mitglieder akzeptiert werden könnten. Deutsche Verbände tun gut daran, ihre Zusammenarbeit mit europäischen Partnern auszubauen und dadurch neue Kraftzentren zu schmieden.
Basis solcher Kooperationen ist ein gut strukturierter Kommunikationsfluss. Die politischen Entwicklungen auf allen Ebenen müssen sortiert, analysiert und zueinander in Bezug gestellt werden. Erst dann stellt sich inhaltlich der für eine Lobbying-Strategie erforderliche Gesamtüberblick ein. Hier können Agenturen wertvolle Hilfestellung leisten. So hat beispielsweise Plato Kommunikation mit dem PLATOpolicygate eine webbasierte Monitoring-Plattform entwickelt, auf der Gesetzgebungsprozesse komplett digital abgebildet werden. Jeder Kunde erhält ein individuelles, geschütztes Portal, auf dem er „seine“ Themen - ob im Büro, über Laptop oder Blackberry - jederzeit einsehen kann. Dokumente, Stellungnahmen, Termine, Akteure und Hintergrundanalysen sind so miteinander verlinkt, dass Entwicklungen und inhaltliche Zusammenhänge sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene jederzeit abrufbar sind. Das PLATOpolicygate verbindet mithin auf höchst innovative Weise die Tiefe und Breite des politischen Monitoring mit den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation.
Mehr Weitblick wagen: Europas gemeinsame Stimme
Wir sprachen über Public Affairs in europäischen Zusammenhängen. Derweil hört die Welt in Europa nicht auf. Wirtschaft und Politik agieren zunehmend im globalen Kontext. Umso entscheidender ist es, dass Europa zu einer gemeinsamen Stimme findet. Nehmen wir die oben bereits erwähnte Energiepolitik: Eine gesicherte Energieversorgung ist für Wirtschaft und Politik aller EU-Mitgliedsstaaten gleichermaßen relevant. So unterschiedlich die nationalen Strategien auch sein mögen — lösen lässt sich das Problem nur, wenn Europa gegenüber Russland, aber auch den arabischen Staaten und anderen Partnern, als Einheit auftritt. Nur eine konzertierte, gemeinsame Interessenvertretung verleiht Europa international ausreichend Gewicht.
Auch beim Schutz geistigen Eigentums muss Europa mit einer Stimme sprechen. Hier hat die westliche Welt ein erhebliches Problem mit globalen Wettbewerbern, die den Schutz von Marken und Patenten nicht ausreichend respektieren. Die Bundeskanzlerin hat das Thema zu Recht auf die Agenda verschiedener internationaler Diskussionsplattformen gesetzt — aber sie braucht die Unterstützung der europäischen Kollegen, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Auch die Wirtschaft muss sich deshalb zunehmend als europäische Wirtschaft verstehen und — koordiniert in Dachverbänden und Netzwerken — gemeinsame Positionen entwickeln.
Internationale Konzerne machen es vor: Neben Bemühungen, auf der jeweils nationalen Ebene erfolgreich ihre Interessen zu vertreten, stimmen sich ihre jeweiligen Repräsentanzen in Brüssel zunehmend untereinander ab. Auch einige europäische Dachverbände sind dabei, ihrer Stimme im globalen Konzert der Wirtschaftsregionen Gehör zu verschaffen — ein Kurs, der konsequent weiterverfolgt werden sollte.
Agenda-Setting in Europa — Mission Impossible?
Ob innerhalb oder sogar außerhalb des Kontinents - erschwert wird Lobbying im europäischen Kontext durch den Umstand, dass es bisher an einer echten europäischen Öffentlichkeit fehlt. Vor der unmittelbaren politischen Arbeit steht oftmals das Agenda-Setting, also die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die eigenen Anliegen. Auf EU-Ebene ist dies ungleich schwieriger als im nationalen Rahmen. Europäische Medien existieren kaum, echte Leitmedien für Europas Entscheider fehlen. Soll ein Artikel im europäischen Umfeld platziert werden, dann stehen nur wenige „Kanäle“ zur Verfügung: „European Voice“ bedient die Brüsseler Community, die „Financial Times“ die Wirtschaftselite. Darüber hinaus bleibt die Zeitungslandschaft von nationalen Medien geprägt. Die wenigen europäischen Fernsehsender haben nur geringe Reichweiten. Allenfalls im Online-Bereich findet sich eine wachsende Anzahl kleinerer Foren, Magazine und Medienprojekte, die sich explizit an eine europäische Öffentlichkeit wenden.
Bis auf weiteres führt der Weg oftmals noch über die EU-Korrespondenten nationaler Medien. Eine echte europäische Öffentlichkeit braucht europäisch handelnde Verleger, europäisch denkende Journalisten und nicht zuletzt ein europäisch denkendes Publikum.
Verbände können einen aktiven Beitrag dazu leisten, dass politisches Interessenmanagement zunehmend in europäischen Dimensionen stattfindet: Ihnen obliegt es, ihre Mitglieder auf die existenziellen Auswirkungen der EU-Gesetzgebung hinzuweisen und Strategien zu entwickeln, wie die jeweilige Branche vor einem Einsturz ihres Geschäftsmodells bewahrt werden kann. Viele Verbände haben dies längst erkannt und sind in Brüssel schon gut aufgestellt. Andere — daran kann kein Zweifel bestehen — werden schon bald folgen.