Die vielfältige Landschaft von Verbänden und organisierten Interessen kennzeichnet die Zivilgesellschaft. Sie vermittelt zwischen dem Staat und dem einzelnen Bürger. Vereine und Verbände sind in die staatlichen Strukturen eingebettet und zugleich Ausdruck des Pluralismus in unserer Gesellschaft. Parteien brauchen die Verbände bei der Organisation von Mehrheiten und die Verbände brauchen die Parteien zur Durchsetzung ihrer Ziele. Organisierte Interessen werden z. B. von der Politikformulierung bis zur Umsetzung in die Regierungsarbeit eingebunden. Die Legitimität der Interessenvertretung wird in den letzten Jahren durch eine illegitime Praxis des Lobbyismus infrage gestellt. Der folgende Beitrag plädiert für eine differenziertere Betrachtung des Lobbyismus.
Vielfalt und Wandel des Lobbyismus
Der Lobbyismus ist durch das Bild einer illegitimen Einflussnahme von organisierten Interessen auf die Politik geprägt. Spektakuläre Fälle wie der des Waffenlobbyisten Karlheinz Schreiber oder die Beschäftigung von Mitarbeitern großer Konzerne als sogenannte „Leihbeamte“ in Ministerien scheinen dieses Bild vom Lobbyismus zu bestätigen. Aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft und von NGOs beschäftigen Lobbyisten. Wer Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen will, muss nicht nur die formellen und informellen Strukturen der Politik kennen, sondern auch die politische Kommunikation beherrschen.
Es ist daher nur konsequent, wenn die Fragen, wann was von wem und wie lanciert werden soll, professionellen Experten überlassen werden. Lobbyismus ist eine Dienstleistung, die von Agenturen und Kanzleien angeboten wird. Alle Interessenvertreter müssen, um ihre Anliegen zu platzieren, die richtigen Parlamentarier ansprechen, z. B. die Vorsitzenden einschlägiger Arbeitskreise und Ausschüsse in den Parlamenten. Die professionalisierte Interessenvertretung steht dabei im Wettbewerb und im Spannungsfeld mit haupt- oder ehrenamtlich tätigen Verbandsfunktionären, die nicht auf externe Lobbyisten zurückgreifen wollen. Aus der Sicht der Politik spielt das eigentlich keine Rolle, da beide Varianten Formen der Interessenvertretung sind. Dennoch haftet dem professionellen Lobbyismus der Geruch des nicht legitimen Einflusses an, als könnten nur die Betroffenen selbst für sich sprechen. Dies ist in einer medialisierten Welt mit ihren Spielregeln der politischen Kommunikation zunehmend unrealistisch.
Lobbyismus zwischen Eigeninteressen und Gemeinwohl
Die Kritik am Lobbyismus geht oft mit einem direktdemokratischen Verständnis einher. Interessenvertretung in einer repräsentativen Verhandlungsdemokratie ist diesem Denken prinzipiell suspekt. Statt eines pluralistischen Diskurses im Rahmen bestehender Institutionen über politische Lösungen scheint das direktdemokratische Verständnis von Demokratie zu wissen, was das Beste für die Gesellschaft ist und dass es in der Entscheidungsfindung keine Zeit zu verlieren gibt. Langwierige Verhandlungen und Kompromisse, wie sie für repräsentative Demokratien typisch sind, stehen dem vermeintlichen one-best-way einer politischen Lösung entgegen. Dabei ist die Volonté générale als einzige Legitimationsbasis für NGOs kaum belastbar. Ihr Eigeninteresse am Erhalt öffentlicher Unterstützung und ihrer Definitionsmacht ist kaum anders als bei gewöhnlichen Lobbyisten und Verbänden.
In ihrer Selbstbeschreibung sehen sich NGOs als die eigentlichen Akteure der Zivilgesellschaft und Hüter des Gemeinwohls. Aber auch jeder andere Verband sieht sich als Vertreter des Gemeinwohls. Dieses Argument ist in einer arbeitsteilig strukturierten Gesellschaft plausibel, die auf die spezifischen Leistungen ihrer Institutionen angewiesen ist. Insofern kann jede noch so kleine Berufsgruppe, die für die Erfüllung spezifischer Leistungen verantwortlich ist, behaupten, dass ihr Beitrag auch dem Gemeinwohl dient. Dies zeigt sich z. B. dann, wenn kleine, spezialisierte Berufsgruppen streiken und damit ihr Beitrag zum Gemeinwohl ausfällt. Bei einem Streik von Lokführern oder Fluglotsen ist die gesamte Gesellschaft betroffen. Die Grenzen zwischen Gemeinwohl und „egoistischen“ Verbandsinteressen sind also nicht eindeutig zu ziehen, weil Letztere dem Gemeinwohl dienen können, auch wenn sie primär ihre eigenen Interessen verfolgen. Hier wird die „unsichtbare Hand“ eines Adam Smith teilweise sichtbar. Weil NGOs nicht an diesen Mechanismus glauben, müssen sie den Gemeinwohlbezug ohne den Umweg über die egoistischen Verbandsinteressen direkt als Ziel formulieren.
Die Akteure der Zivilgesellschaft einschließlich der virtuellen sozialen Netzwerke des WWW sind längst politische Faktoren. Zur Zivilgesellschaft gehören aber nicht nur bürgerrechtsbewegte Gruppen, sondern auch das globale Schattenreich rechtspopulistischer Bewegungen. Die Forschung über neue soziale Bewegungen blendet dies gerne aus. Die Reduktion von Zivilgesellschaft auf „die Guten“ verfehlt den pluralistischen Charakter moderner Gesellschaften.
Lobbyismus als neutrale Form zeitgemäßer Interessenvertretung?
Der Strukturwandel der Verbändelandschaft hat auf der einen Seite dazu geführt, dass auch die neuen Interessen – die der NGOs – auf bewährte Instrumente der Kommunikation und der Public Relations zurückgreifen, um ihre Anliegen in der Politik zu platzieren. Auf der anderen Seite wurde dadurch auch das klassische Bild von Lobbyismus verändert. Es ist nicht mehr das Bild des Verbandsfunktionärs, der illegitime Anliegen einzelner Unternehmen gegenüber der Politik mithilfe einer Drohkulisse durchsetzt. Der Neo-Lobbyist ist eher der smarte Professional, der mit Politikern und Beamten vernetzt ist und sich in die Materie einarbeitet, die er im Auftrag eines Klienten vertreten soll.
Zudem ist der moderne Lobbyist auch für die „andere Seite“ tätig. Menschenrechtsorganisationen und Umweltverbände haben ebenfalls ihre Lobbyisten, die gegenüber der Politik nicht weniger professionell auftreten. Oft kommen Lobbyisten aus der Politik. Ehemalige hohe Regierungsbeamte oder Abgeordnete haben gegenüber den externen Lobbyisten den Vorteil, dass sie das Innenleben des Politikbetriebs kennen und über gute Kontakte verfügen. Externe verfügen trotz aller kommunikativen und generalistischen Kompetenzen nicht über diese Ressourcen eines Elder Statesman.
Für Birger Priddat ist „Lobby eine legitime, aber intransparente Interessenvertretung, gleichsam ihre verdeckte Form (...)“. Sie „geschieht für die Bürger unsichtbar. Das ist demokratietheoretisch unklar: was nicht beobachtet werden kann, kann auch nicht kontrolliert werden“ (Priddat 2009: 64). Eine solche Sicht ist einseitig. Vieles andere in der Verwaltung ist aus guten Gründen ebenfalls der öffentlichen Beobachtung entzogen – deswegen ist es aber nicht undemokratisch. Zudem wird bei der Kritik am Lobbyismus ausschließlich das Lobbying von Konzernen genannt, obwohl sich auch NGOs längst des Lobbyings bedienen. Schließlich ist das Interesse eines Unternehmens, das sich etwa für die Genehmigung einer neuen Technologie einsetzt, auch im Interesse seiner Beschäftigten und der Region an der Sicherung von Arbeitsplätzen.
Zudem gibt es eine Reihe einflussreicher Lobbyisten, die in der Kritik am Lobbyismus selten eine Rolle spielen: z. B. Lobbyisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, von Sportvereinen, Bildungsträgern, Großforschungseinrichtungen, Kultureinrichtungen oder des Naturschutzes. Sie alle machen es im Prinzip nicht anders als die Vertreter der Konzerne: Sie liefern Abgeordneten und Fachbeamten Informationen, laden sie zu repräsentativen Events ein, führen Gespräche mit Ministern u. Ä. Und sie haben vor allem hohe moralische Ressourcen sowie gesellschaftlich akzeptierte Anliegen, über die Lobbyisten von Konzernen kaum verfügen. Im Wettbewerb der organisierten Interessen um Aufmerksamkeit in der Politik und in den Medien ist dies ein großer Vorteil.
Lobbyismus sollte differenzierter bewertet werden. Es spricht einiges dafür, ihn als neutrales, multifunktionales und mehrdimensionales Instrument der Interessenvertretung zu sehen, das seinen Funktionswandel den Veränderungen der politischen Kommunikation und denen der Verbändelandschaft verdankt.