Verbändereport AUSGABE 9 / 2002

Gesetzliche Verbände im Umbruch

Krankenkassenverbände mit hoheitlichen Aufgaben als kundenorientierte Dienstleister

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Das Gesundheitswesen in Deutschland ist stark geprägt von den Verbänden. Skeptiker behaupten sogar, kein Politikfeld wird so sehr von Verbänden beeinflusst wie das des Gesundheitswesens. Verbände im Gesundheitswesen stehen bei jeder Reform unter erheblichen Erfolgsdruck: Sie müssen durch ihre Lobbyarbeit versuchen, für ihre Mitglieder möglichst „großes Stück vom Kuchen abzubekommen“, zumeist zu Lasten anderer Interessensgruppen. Die Erwartungen der Mitglieder zwingen Verbände sich zu wandeln, zu modernisieren.

Die Aufgaben der Verbände im Gesundheitswesen sind so vielfältig, wie ihre Organisationsformen. Die Verbände der Krankenkassen beispielsweise sind im Sozialgesetzbuch V (SGB V), differenziert nach Spitzenverbänden und Landesverbänden beschrieben. Sie sind entweder als Körperschaften des Öffentlichen Rechts gebildet, wie die Verbände von Orts- Innungs- und Betriebskrankenkassen, oder als privatrechtliche Vereine wie bei den Ersatzkassen. Die Verbände der Krankenkassen sind zugleich auch nach dem SGB XI Verbände der sozialen Pflegeversicherung. Neben den gesetzlichen Verbänden (beispielsweise: Krankenkassenverbänden, Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen) gibt es eine Vielzahl von freiwilligen Verbänden der Beteiligten im Gesundheitswesen (Krankenhäuser, Pflegedienste, Apotheken, Pharmaindustrie), die privatrechtliche Strukturen haben.

Verbände sichern Demokratie

Wenn es die Verbände im Gesundheitswesen nicht bereits gäbe, müsste man sie schleunigst erfinden.
Denn die Feinsteuerung des Gesundheitswesens ist nur durch die Mitwirkung der Verbände möglich. Immer wieder entstehen ganze Gesetzespassagen in den Fachabteilungen der Verbände. So sind beispielsweise die Veränderungen im Arzneimittelbereich der jüngsten Gesetzgebung von den Arzneimittelexperten des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen formuliert worden. In der Vergangenheit dagegen haben häufig die Pharmaverbände die Feder beim Schreiben der Gesetzestexte geführt.

Politik ist zu grobschlächtig, um ohne Mitwirkung von Verbänden, das Gesundheitswesen steuern zu können. Das ist die eine Aufgabe der so genannten Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, der vom Gesetzgeber eine Reihe von quasi hoheitlichen Aufgaben übertragen wurden.

So entscheiden die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen rechtsverbindlich für alle mehr als 300 gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, ob ein bestimmtes medizinisches Verfahren zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehört oder erlaubt zunächst Modellversuche wie beispielsweise in der Erprobung der Akupunktur.

Politik ist zu grobschlächtig, um ohne Mitwirkung von Verbänden, das Gesundheitswesen steuern zu können.

Zudem übernehmen die gesetzlichen Verbände im Gesundheitswesen als halbstaatliche Organisationen auch reglementierende Funktionen. Jeder niedergelassene Arzt, der Versicherte der Gesetzlichen Krankenkassen behandelt, ist Mitglied in der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) seines Bezirkes. Die KV sorgt neben der Verteilung des Honorars an die Ärzte auch dafür, dass sich jeder Arzt an die vereinbarten Verträge mit den Krankenkassen hält. Die Verbände der Krankenkassen kümmern sich beispielsweise darum, dass die einzelne Krankenkasse die Vorgaben des Gesetzgebers und der Bundesausschüsse beachtet, welche Leistungen Versicherten von ihrer Krankenkasse erstattet bekommen und welche nicht. Die Krankenkassenverbände finanzieren sich durch Umlagen von ihren Mitgliedskassen, die pro versichertes Mitglied und Jahr einen festen Betrag an den Landesverband und über den Landesverband an den Bundesverband bezahlen.

Immer neu legitimieren

Verbände müssen sich immer wieder neu nach innen, gegenüber ihren Mitgliedern, legitimieren. Dies gilt auch für gesetzliche Verbände, wie die Krankenkassenverbände oder die Kassenärztlichen Vereinigungen. Nur auf den ersten Blick können sich gesetzliche Verbände im Gesundheitswesen entspannt zurücklehnen nach dem Motto: Wir haben ja gesetzlich definierte Aufgaben und unsere Mitglieder - der einzelne Arzt, die einzelne Krankenkasse - können nicht aus dem Verband austreten.

Doch der Schein trügt. Auch Gesetze lassen sich ändern. Und je unzufriedener einzelne Mitglieder mit der Arbeit ihres Verbandes sind, umso stärker drängen sie in ihrer eigenen Lobbyarbeit die Politiker zu Veränderungen. So sind beispielsweise viele Hausärzte mit ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) unzufrieden, da sie sich bei der Honorarverteilung gegenüber den Fachärzten benachteiligt fühlen, und fordern eigene Kassenärztliche Vereinigungen für Hausärzte. Bislang noch ohne Erfolg.

Um ihre Legitimation zu stärken, nimmt die Kundenorientierung von Verbänden zu. So versuchen Verbände zusätzliche Serviceangebote, auch in Konkurrenz zu freien Anbietern auf dem Markt, erfolgreich als Verbandsangebot zu implementieren. Eine Rundumversorgung, beispielsweise gerade auch im immer wichtiger werdenden IT-Bereich erhöht die Kundenbindung an den eigenen Verband. Der BKK Landesverband Niedersachsen-Bremen hat diesen Zusammenhang bereits früh erkannt und ein immer stärker differenziertes Angebot für seine Mitgliedskassen aufgebaut.

Verbände bündeln Interessen

Verbände suchen und definieren Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder. Sie müssen dabei das Interesse aller Mitglieder im Auge behalten und nach außen hin vertreten. Die Verbände der Betriebskrankenkassen, so beispielsweise der BKK Landesverband Niedersachsen-Bremen vertritt genauso BKK mit mehreren hunderttausend Versicherten wie BKK mit nur knapp über eintausend Versicherten. In Fragen, in denen die Interessen der Mitgliedskassen auseinander gehen, versucht der Verband, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der so groß wie möglich sein sollte. Nur so lassen sich Positionen und politische Forderungen definieren, die auch tragfähig sind. Auf der anderen Seite dürfen die Positionen nicht elementaren Interessen einzelner Mitglieder entgegenstehen. Sonst droht dem Verband eine Spaltung - real oder zu mindestens faktisch, durch die Einstellung der Mitarbeit einzelner Mitglieder.

Wenn Aktivitäten des Verbandes nur noch wenigen Mitgliedern Vorteile bringen, möglicherweise sogar zu Lasten anderer Mitglieder, dann muss der Verband darauf verzichten. Der BKK Landesverband Niedersachsen hat jahrelang Werbekampagnen zur Gewinnung von neuen Versicherten geschaltet. Es hat sich gezeigt, dass diese Werbeaktivitäten überwiegend nur einer Hand voll von Mitgliedskassen nutzten, da Krankenversicherte sich eine neue Krankenkasse vor allem nach dem Preis, also dem möglichst günstigen Beitragssatz aussuchen.

Diejenige Betriebskrankenkassen mit vergleichsweise hohen Beitragssätzen profitierten also nicht von der Werbekampagne des Verbandes; ja sie befürchteten sogar Versichertenverluste an andere BKK im selbem Verband.

Der Landesverband hat darauf hin die Werbung von neuen Versicherten ausschließlich seinen Mitgliedskassen überlassen und konzentriert sich stärker auf die politische Öffentlichkeitsarbeit in Form von Veranstaltungen, Fachforen oder besonderen Events für Politiker.

Verbände, die es nicht (mehr) schaffen, die Interessen ihrer Mitglieder zu bündeln und nach außen stark zu vertreten, fallen auseinander oder gehen in anderen Verbänden auf.

So hat es beispielsweise der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) nicht mehr geschafft, die Interessen der mittelständischen Betriebe mit denen der Großindustrie auf einen gemeinsamen politischen Verbands-Nenner zu bringen. Die Folge war der Auszug der chemischen Großindustrie aus dem BPI und die Gründung des Verbandes forschender Arzneimittelunternehmen (VFA)

Verbände, die es nicht (mehr) schaffen, die Interessen ihrer Mitglieder zu bündeln und nach außen stark zu vertreten, fallen auseinander oder gehen in anderen Verbänden auf.

Geliebt und gehasst zugleich

(Gesetzliche) Verbände werden von ihren Mitgliedern zwiespältig wahrgenommen. Sie werden von ihren Mitgliedern zugleich geliebt und gehasst. Das liegt in der Natur der Sache: Als gesetzliche normierte Verbände im Gesundheitswesen haben Verbände staatliche Kontrollaufgaben. Dafür werden sie „gehasst“; so schimpfen Ärzte untereinander über Ihre KV. Auch Krankenkassenvorstände äußern sich skeptisch, nach dem Motto: "Ohne Verbände ginge alles viel besser". Der selbe Vorstand einer BKK, der am Abend beim Bier mit seinen Kollegen über die nichtsnutzigen Verbände geschimpft hat, bittet allerdings am nächsten Tag "seinen" Verband um Hilfestellung beim Texten eines Versicherten-Infos, beim Aufstellen des Haushaltsplanes oder beim Kostenmanagement. Wenn er dann von seinem Verband schnelle und kompetente Hilfestellung erhält, ist er zufrieden. Was ihn nicht daran hindert, beim nächsten Bier möglicherweise wieder über die Verbände herzuziehen.

Innovation ist überlebenswichtig

Statische Verbände, die sich nicht immer wieder neuen Herausforderungen stellen, haben (langfristig) keine Überlebens-Chance, nicht einmal als Zwangsverbände. Die Mitglieder werden sich von ihm abwenden. Die "Existenzangst" hält Management und Mitarbeiter der Verbände jung; denn sie wissen, ohne stetige Innovation und Verbesserung ihres Serviceangebotes sind die bestehenden Arbeitsplätze gefährdet. Zugespitzt ausgedrückt müssen Verbände nach dem Motto agieren:

Wir arbeiten heute schon an Antworten auf die Fragen, die unsere Mitglieder morgen stellen werden, damit wir schnell die notwendigen Lösungen präsentieren können.

Das bedeutet auch:

Verbände müssen ihren Mitgliedern auf möglichst vielen Gebieten einen Schritt voraus sein. Das gilt allem voran für die IT-Technologie. Der BKK Landesverband Niedersachsen-Bremen hat Wert darauf gelegt, seinen Mitgliedern ein modernes Rechenzentrum anzubieten, das sich in Kooperation mit anderen Verbänden zum größten Rechenzentrum in der BKK-Landschaft entwickeln konnte. Nicht nur die Mitgliedskassen des Landesverbandes, sondern auch die Betriebskrankenkassen aus anderen Landesverbänden lassen dort die Daten ihrer Versicherten verwalten. Aber auch die Bürokommunikation - intern wie extern - bedarf der ständigen Innovation, möglichst bevor der Verband von seinen Mitgliedern dazu genötigt wird. Beispiele aus der Vergangenheit hierfür sind die schnelle Erreichbarkeit per E-Mail oder der eigene Internetauftritt.

Aber auch in Fachfragen sind die Verbände der gesetzlichen Krankenkassen gefordert, Vordenker zu sein. Im Jahres 2002 war es notwendig Kompetenzen aufzubauen, um den Mitarbeiten der Mitgliedskassen in Workshops und Fortbildungen zu vermitteln, wie das neue Abrechnungssystem mit den Krankenhäusern (nach Fallpauschalen) funktioniert und welche Problemstellungen sich daraus für die Praxis im Alltag ergeben oder, wie es gelingt, möglichst viele betroffene Versicherte für die strukturierten Behandlungsprogramme für (beispielsweise) Diabetiker zu gewinnen. Das Problem der Krankenkassenverbände liegt darin, dass flexible Lösungen zum Beispiel durch zusätzliches Personal nur schwer möglich sind, da sie den (oft starren) staatlichen Haushaltsregeln unterliegen. So ist es nicht möglich ein neues Produkt oder ein neues Angebot mit Krediten zu finanzieren und nach Markteinführung auf seine Refinanzierung zu setzen. Stattdessen müssen neue Produkte mit den vorhandenen Personal- und Finanzressourcen entwickelt werden. Deswegen sind Verbände auch immer wieder gefordert ihre bisherigen Aufgaben und Dienstleistungen zu hinterfragen und notwendige Veränderungen vorzunehmen, um schnell auf neue Anforderungen reagieren zu können.

Verbände müssen effektiv sein

Verbände müssen sich für ihre Mitglieder lohnen.

Angebote eines Verbandes, die ihre Mitglieder selbst besser und kostengünstiger erledigen können, verbieten sich von selbst, genauso wie solche, die von Anbietern auf dem freien Markt genauso gut und preisgünstig angeboten werden. Ein Verband kann und muss nicht alles besser können (oder wissen) als seine Mitglieder, aber in den Bereichen, in denen er sein Know-how anbietet, muss er kompetent und effektiv arbeiten. Kleinere Krankenkassen können für sich allein kaum alle Kompetenzen im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung vorrätig halten. Auch im Bereich von Gesundheitsmanagement durch strukturierte Behandlungsprogramme ist die Kompetenz und die Marktmacht des Verbandes gefordert. Selbst die großen BKK in Niedersachsen mit mehr als einhunderttausend Versicherten sind für sich zu klein, um flächendeckend in Niedersachsen ihren Versicherten in allen Sektoren des Gesundheitswesens (von ambulanten Versorgung beim Arzt über Krankenhaus und Reha-Kliniken bis hin zu Pflegedienste und der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln) eine optimale und effiziente Versorgung anbieten zu können. Erst durch die Bündelung der Marktmacht (mehr als 20 Prozent aller gesetzlich Krankenversicherten in Niedersachsen und Bremen sind BKK-versichert) durch den Verband erwirtschaften die einzelnen BKK Kostenvorteile gegenüber anderen Krankenkassenarten, wie AOK und Ersatzkassen.

Konkurrenz belebt das Geschäft

Auch bei den Verbänden belebt die Konkurrenz das Geschäft. Kundenorientierung, Effektivität und Modernität zeichnen diejenigen Verbände aus, die in direkter oder indirekter Konkurrenz zu anderen Verbänden stehen. Monopolverbände, wie beispielsweise der Kassenärztlichen Vereinigungen stehen unter weit weniger Modernisierungsdruck als beispielsweise die Krankenkassenverbände, die in doppelter Konkurrenz stehen: Zum einen stehen die Verbände der einzelnen Kassenarten (AOK, BKK, IKK und Ersatzkassen) zunehmend im Wettbewerb um effiziente Versorgungsstrukturen für die Versicherten ihrer Mitgliedskassen, also um kostengünstige und qualitativ hochwertige Angebote. Zum anderen stehen auch die Landesverbände untereinander und im Verhältnis zum Bundesverband im Wettbewerb, um effektive Angebote an die Mitgliedskassen.

Mitgliedskassen des BKK LV Niedersachsen-Bremen nach Größe
Unter 2.500 Mitglieder: 2 BKK
2.500-5.000 Mitglieder: 8 BKK
5.000-10.000 Mitglieder:3 BKK
10.000-25.000 Mitglieder: 4 BKK
25.000-50.000 Mitglieder: 6 BKK
50.000-100.000 Mitglieder: 3 BKK
mehr als 100.000 Mitglieder: 2 BKK

Marktanteil der BKK in Niedersachsen:
1998: 14,4%
1999: 15,8%
2000: 17,4%
2001: 19,4%
2002: 20,8%

(jeweils am Stichtag 1.10. eines Jahres, gerechnet sind der Anteil an allen Gesetzlich Krankenversicherten)

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