Verbändereport AUSGABE 3 / 2005

„Europäisches Sozialmodell“ oder Dienstleistungsfreiheit

Von falschen Alternativen und richtigen Korrekturen

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Europa werde wegen der Dienstleistungsrichtlinie keinesfalls sein erfolgreiches „Sozialmodell“ riskieren, erklärte kürzlich beim EU-Gipfel der EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker. Er fügte nicht hinzu, ob er dabei mehr an die Sozialmodelle in Portugal, Großbritannien oder Deutschland dachte. Gleichwohl solle der Vorschlag der EU-Kommission für eine Dienstleistungsrichtlinie überarbeitet werden.

Dienstleistungen ohne Grenzen

Für ein Europa ohne Grenzen ist neben der Warenverkehrsfreiheit, der Niederlassungsfreiheit und der Freizügigkeit für Arbeitnehmer sicherlich auch die Dienstleistungsfreiheit nötig, zumal die Dienstleistungen mittlerweile mehr als die Hälfte zum Bruttosozialprodukt beitragen.

Unter Dienstleistungsfreiheit versteht man das Recht, vorübergehend selbständig auf eigene Rechnung in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union seine Leistungen erbringen zu können. Das unterscheidet sie von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer die das das Recht beinhaltet, unselbständig in einem anderen EU-Land einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und der Niederlasssungsfreiheit, bei der die selbständige Erwerbstätigkeit auf in ein anderes Mitgliedsland verlagert wird.

Die Niederlassungsfreiheit ist durch eine Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes — etwa der Überseeringentscheidung — weitgehend abgesichert.

Kern des Streites

Dass der Dienstleistungsverkehr liberalisiert werden soll, ist außer Streit. Der politische Konflikt hat sich vielmehr an der Art und Weise dieser Liberalisierung entzündet. Im Prinzip stehen zwei Regelungsmodelle zur Auswahl: das Prinzip des Herkunftslandes oder das Prinzip des Bestimmungslandes.

Wird das Herkunftslandsprinzip wie in dem Kommissionsvorschlag gewählt, dann richtet sich die Zulassung zur Erbringung der Dienstleistung sowie die sonstigen Modalitäten nach der Rechtslage desjenigen Staates, in dem der Dienstleistungserbringer seinen Wohnsitz hat. Umgekehrt ist es beim Bestimmungslandprinzip: Dann muss der Leistungserbringer die Zulassungen und Qualifikationen besitzen, die in dem Land der Leistungserbringung für die jeweilige Dienstleistung gefordert werden. Es liegt auf der Hand, dass die Ausrichtung an der Rechtslage des Bestimmungslandes für den EU-Ausländer gegenüber Inländern mit Nachteilen verbunden ist. So kann er nicht ohne weiteres darauf verweisen, dass die Leistungserbringung durch ihn in seinem Heimatland erlaubt sei, wenn im Bestimmungsland hierfür etwa besondere Zulassungen oder behördliche Anerkennungen erforderlich sind.

Zum Teil sind diese Hindernisse bereits durch die wechselseitige Anerkennung bestimmter Berufsqualifikationen gemildert worden. Dies gilt etwa im Bereich des Handwerksrechts, demzufolge EU-Ausländer ohne Meisterbrief aber mit ausreichender fachlicher Qualifikation auch in Deutschland selbständig ein Handwerk ausüben können. Auch im Bereich der akademischen Qualifikationen gibt es mitt-lerweile zahlreiche und wechselseitige Anerkennung.

Wie begründet die EU-Kommission
ihren Vorschlag? Das folgende Schaubild fasst die wesentlichen Argumente der EU-Kommission für ihren Richtlinienvorschlag zusammen:

„Sozialmodell Europa“ vs. „Sozialdumping“

Die europäischen Länder mit einem hohen Sozial- und Lohnniveau befürchten durch die Anwendung des Herkunftslandsprinzips „Sozialdumping“ auf breiter Front. Dies hält einer näheren Nachprüfung nicht stand. Zum ersten deshalb nicht, weil von der Dienstleistungsfreiheit nur selbständige Tätigkeiten und keine Arbeitnehmertätigkeiten erfasst werden. Daher würden auch Mindestlöhne — wie sie etwa in Frankreich gesetzlich vorgesehen sind — nicht weiterhelfen, da sie auf Arbeitnehmer beschränkt sind. Zum anderen würde bei der befürchteten Scheinselbständigkeit auch die Anwendung des Rechtes des Bestimmungslandes keine Abhilfe schaffen, weil zum Beispiel in Deutschland — mit Ausnahme der Bauwirtschaft — keine Mindestlöhne vorgesehen sind.

Auch das Prinzip des Bestimmungslandes würde hier nicht weiterhelfen, weil es sich um eine selbständige Leistungserbringung handelt. Tarifverträge oder allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge würden also ins Leere gehen.

Für bestimmte besonders sensible Bereiche, wie etwa die Rechtsberatung und Teile der Versorgungswirtschaft, gilt die Dienstleistungsfreiheit ohnehin nicht. Hier sind die Regeln teilweise in besonderen Richtlinien, die die Eigenarten des jeweiligen Sektors berücksichtigen, geregelt.

Es bleibt daher ein Wertungswiderspruch, wenn die EU-Länder mit hohem Sozialaufwand für sich die Vorteile der Warenverkehrsfreiheit in Anspruch nehmen, sich aber vehement gegen eine Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs wenden.

Wie wird es weitergehen?

Gegenwärtig ist noch nicht abzusehen, auf welchen politischen Kompromiss die Verhandlungen zwischen Rat und Kommission hinauslaufen werden. Nach ersten Äußerungen soll das Herkunftslandprinzip auf den Prüfstand gestellt werden. Aber selbst wenn man sich in Zukunft für das Bestimmungslandsprinzip entscheiden sollte, wären die Befürchtungen damit nicht ausgeräumt, weil es keine Mindestpreise für selbstständige Dienstleistungen in der EU gibt.

Sollte der EU-Gesetzgeber sich nicht rechtzeitig einigen können, ist eher damit zu rechnen, dass weitere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes dem Europa ohne Grenzen auf dem Dienstleistungssektor Geltung verschaffen. (HM)

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Autor/in

Helmut Martell

ist Rechtsanwalt. Helmut Martell war Gründungsvorsitzender der DGVM und zwanzig Jahre ihr Stellvertretender Vorsitzender. Von 1997 bis 2014 fungierte er als Herausgeber des Verbändereport.

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