Verbändereport AUSGABE 5 / 2008

Einwurf: Lusitanischer Popanz

Die Europäische Union am Scheideweg

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Und wenn die Iren recht hätten? Recht hätten mit ihrem demokratischen Instinkt, dass da et-was faul ist in Europa, einem Instinkt, der durch Jahrhunderte Fremdbestimmung geschärft ist? Oder in politisch korrekter Sprache: Was wäre der größte anzunehmende Schaden, wenn der Lissabonner Vertrag nicht oder nur arg gerupft über die Ziellinie käme?

Bei ihrem entschiedenen Expansionskurs, für den nicht zuletzt der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen stand und steht, haben die Akteure vergessen, in den Rückspiegel zu schauen, ob ihnen die europäischen Staatenvölker auch noch folgen. Das hat sich bei der nur unzureichend öffentlich debattierten und daher zu Recht gescheiterten Initiative für eine europäische Verfassung gerächt und scheint nunmehr auch das Debakel bei dem Lissabonner Vertrag einzuläuten, bei dem die Iren mit ihrem Referendum nur eine Stellvertreterrolle für einige andere Mitgliedsstaaten spielen, in denen gleichermaßen große Vorbehalte gegen den doppelten Expansionskurs der Europäischen Union bestehen.

Es handelt sich um einen doppelten Expansionskurs, weil weiterhin die Europäische Union territorial ausgeweitet werden soll, ohne dass die bisherigen Brocken schon richtig verdaut wären, und zugleich der Kompass – von einigen kosmetischen Korrekturen abgesehen – auf noch mehr europäischen Zentralstaat eingestellt bleibt.

Was wären dann die anzunehmenden Nachteile, wenn die Europäische Union, statt weiter auf Expansion zu setzen, erst einmal eine Phase der Konsolidierung einlegte? Um eine Bewertung des Pro und Kontra des Lissabonner Vertrages vornehmen zu können, sollte man ihn zunächst auf seine wesentlichen Inhalte hin untersuchen.

Inhalt des Lissabonner Vertrags

Die wesentlichen Regelungen des Lissabonner Vertrages beinhalten eine klarere Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union, die zugleich mit einer Kompetenzausweitung der Union verbunden werden. Es gilt insbesondere für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJCS), die im Lissabonner Vertrag unter der Überschrift „Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts“ zusammengefasst ist. Letztere war bisher stark intergouvernmental geprägt und soll in Zukunft – von Ausnahmen abgesehen – voll in die Gemeinschaft integriert werden. Dies wird unter anderem mit den Erfordernissen einer angemessenen Reaktion auf den internationalen Terrorismus und die organisierte Kriminalität begründet. Der Lissabonner Vertrag sieht zugleich eine Reform der europäischen Institutionen vor.

Die wesentlichste Neuerung ist die Schaffung eines hauptamtlichen Präsidenten, der mit qualifizierter Mehrheit für eine Amtsdauer von zweieinhalb Jahren gewählt wird, wobei eine einmalige Wiederwahl möglich ist. Daran wird gelegentlich die Vermutung geknüpft, dass sich in Zukunft eine Doppelspitze von Kommissionspräsidenten und Präsidenten des Europäischen Rates herausbilden könnte, wobei dem Kommissionspräsidenten faktisch die Rolle eines „Premierministers“ zufallen könnte. Nimmt man den noch mit erheblichen Kompetenzen ausgestatteten Hohen Vertreter für die GASP hinzu, so wird in EU-Kreisen auch von einer künftigen Dreierspitze gesprochen.

Für das Funktionieren der Europäischen Union wohl am wichtigsten ist die Neuordnung des Entscheidungsverfahrens, an der lange Zeit das ganze Reformprojekt zu scheitern drohte. Es ist der deutschen Präsidentschaft zu verdanken, wenn schließlich ein von allen Mitgliedsstaaten akzeptierter Kompromiss gefunden werden konnte. Dieser Kompromiss enthält folgende Elemente: Bis Ende Oktober 2014 bleibt es bei den Abstimmungsverfahren, wie sie im Vertrag von Nizza zugrunde gelegt worden sind. Danach soll im Rat das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit gelten. Dies war bereits in dem Verfassungsvertrag vorgesehen. Eine Mehrheit kommt dann zustande, wenn mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rates aus mindestens 15 Mitgliedsstaaten zustimmen, sofern sie gleichzeitig mindestens 65 Prozent der Unionsbevölkerung repräsentieren. Für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder des Rates erforderlich, ansonsten gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht. Übergangsweise bis zum 31. März 2017 kann ein Mitgliedsstaat ausnahmsweise beantragen, dass nach der bisherigen Nizzagewichtung abgestimmt wird.

Die Europäische Union wäre aber nicht die Europäische Union, wenn diese relativ klare Regel nicht durch einen Kompromiss überlagert würde, der den Grundsatz praktisch wieder zur Ausnahme machen könnte. Diese Kompromissformel findet sich in der sogenannten Ioannina-Vereinbarung, die einen erweiterten Minderheitenschutz mit einer Sperrminorität vorsieht.

Gleiche Spiegelfechtereien finden sich auch in der europäischen Kompetenzordnung, bei der das geschriebene Wort weit von der Praxis abweicht. Nach dem Vertrag soll es zwar bei dem Prinzip der gesonderten Einzelermächtigung des EU-Gesetzgebers bleiben, gleichzeitig sind aber die Kompetenzfelder der Europäischen Union so umfassend erweitert worden, dass es kaum noch Politikfelder gibt, die der Regelungskompetenz der EU entzogen bleiben.

Wenn der scheidende Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Hassemer vor den Gefahren einer Aushöhlung der Grundrechte durch die Europäische Union warnt, dann muss eine solche Stimme ernst genommen werden. In ihr spiegelt sich der schon seit Längerem schwelende Streit zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof wider, wie er in den „Solange“-Verfahren und der „Theorie vom ausbrechenden Rechtsakt“ seinen Niederschlag gefunden hat.

Gerügt wird die veränderte Rolle des Europäischen Gerichtshofes. Hatte sich dieser – etwa mit der Cassis-Rechtsprechung – zu Zeiten der „Eurosklerose“ in den siebziger und achtziger Jahren als Motor der weiteren Integration der europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage der damals bestehenden Verträge erwiesen, so erlag er in der Folgezeit bei Kompetenzstreitigkeiten zwischen den europäischen Institutionen und den Mitgliedsstaaten immer öfter der Versuchung, ‚in dubio pro unione‘ zu entscheiden und damit schleichend die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten auszuhöhlen. Auch Deutschland gehörte hier öfters zu den Verlierern. Das ist auch einer der Gründe, warum Staaten wie Polen, die Tschechische Republik, aber auch Abgeordnete des Bundestages mit solcher Verve ihre Euro-Skepsis äußern und die staatlichen Verfassungsgerichtshöfe anrufen. In den nordeuropäischen Staaten, allen voran Großbritannien, tritt noch ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber der Dominanz von Staaten hinzu, die sich durch eine kaum zu beseitigende „Klientel-Kultur“ auszeichnen.

Expansion oder Konsolidierung?

Auch in einer Konsolidierungsphase wäre die Union nicht zur Untätigkeit verurteilt, sondern könnte daran gehen, die vielen Baustellen zu beseitigen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten liegen gelassen hat.

Der interne Stand der Integration hat ein Niveau erreicht, das weitgehend allen Erfordernissen genügt. Nunmehr wäre es nötig, das skandalös komplizierte, zum Teil überflüssige, stets aber unverständliche europäische Recht zu verschlanken, es in eine Form zu übersetzen, die es den Rechtsadressaten verständlich erscheinen lässt, und Imbalancen auszugleichen, die bei dem raschen Integrationstempo wohl unvermeidlich waren.

Was die Union am dringendsten braucht, ist eine robuste Geschäftsordnung, die es erlaubt, in vernünftigen Zeiträumen zu Entscheidungen zu kommen. Wenn der Lissabonner Entscheidungsmodus noch auf sich warten lassen sollte, kann die Union zur Not auch noch mit dem Modus von Nizza leben, wie sie das in der Vergangenheit bereits bewiesen hat. Dabei sollte nicht ausgeschlossen werden, dass punktuell durch entsprechende Vertragsänderung ein schnelleres Verfahren auf genau bestimmten Feldern vorgesehen werden könnte, bei denen eine rasche Entscheidungsfindung auch nach Ansicht der Skeptiker unumgänglich ist. Zu einer solchen punktuellen Verfahrensstraffung wären vermutlich auch diejenigen Mitgliedsstaaten bereit, die sich bisher offen oder verdeckt gegen eine allgemeine, auf alle Politikfelder anzuwendende Lissabon-Prozedur widersetzt haben.

So wie sich die Union – ob mit oder ohne Lissabonner Vertrag – darstellt, ist ihr keine überzeugende „balance of powers and competences“, sondern nur ein Verdrossenheit stiftender „block of centralisation, vetoes and opts out“ gelungen. Sie hat durch ihr hochmütiges und oft wenig bürgerfreundliches Verhalten viel Kredit verspielt. Jetzt hat sie Zeit zum Nachdenken und zur Kurskorrektur.

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Autor/in

Helmut Martell

ist Rechtsanwalt. Helmut Martell war Gründungsvorsitzender der DGVM und zwanzig Jahre ihr Stellvertretender Vorsitzender. Von 1997 bis 2014 fungierte er als Herausgeber des Verbändereport.

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