Die Dienstleistungsrichtlinie soll das Wachstumspotenzial im europäischen Binnenmarkt fördern und damit die Beschäftigung im Dienstleistungssektor erhöhen. Lange zwischen EU-Kommission und EU-Parlament umstritten, ist sie mittlerweile nach Nachbesserungen seit Dezember 2006 in Kraft. In der Verbändewelt stößt sie tendenziell eher auf Desinteresse bis Ablehnung, dabei bietet sie bei aller berechtigten Kritik Chancen zur Positionierung gegenüber Politik und Verwaltung und lässt sich strategisch als Instrument der Mitgliederbindung und der Öffentlichkeitsarbeit nutzen.
Die Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG) ist Teil der Lissabon-Strategie und soll Verbrauchern, Kunden und Dienstleistern die Nutzung der Dienstleistungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt erleichtern. Zwar war die sogenannte vorübergehende Dienstleistungsfreiheit schon seit dem EG-Vertrag von 1957 als Recht aller Bürger der Union verbrieft, doch gab es in den Mitgliedsstaaten unterschiedliche Hürden durch Vorschriften und Verwaltungsverfahren. Die neue Richtlinie soll nun Handelshemmnisse bürokratischer Art im Dienstleistungssektor abbauen und damit den Binnenmarkt mit grenzüberschreitenden Dienstleistungen stärker verwirklichen.
Betroffen von den Bestimmungen der Richtlinie sind Dienstleistungen (in Abgrenzung zu Sachleistungen beispielsweise im Produktionssektor), also selbstständige wirtschaftliche Tätigkeiten gegen Entgelt. Damit gilt die Richtlinie in verschiedensten Bereichen von freiberuflichen über kaufmännische, gewerbliche bis hin zu handwerklichen Tätigkeiten und ist für alle Berufs- und Personenverbände sowie für Kammern, Innungen u. Ä. m. interessant, die diese Berufsgruppen vertreten. Das mittlerweile fast berüchtigte Beispiel des portugiesischen Fliesenlegers, der in Deutschland arbeiten möchte, ist also nur ein kleiner Ausschnitt aus den von der Richtlinie betroffenen Berufen. Grundsätzlich ausgenommen sind allerdings Gesundheits- und Sozialdienstleistungen, Verkehrsdienstleistungen, Bank- und Finanzdienstleistungen und einige andere.
Berührt sind sowohl die vorübergehenden grenzüberschreitenden Dienstleistungen als auch die Niederlassungsfreiheit. Vorübergehende Dienstleistungen sind solche, bei denen der Dienstleister weiterhin mit der Wirtschaft des Mitgliedsstaates verbunden bleibt, in dem er seine Niederlassung hat. Dabei spielen Dauer, Häufigkeit und andere Kriterien der jeweiligen Dienstleistung eine Rolle. Die Niederlassungsfreiheit dagegen betrifft die dauerhafte und stabile Begründung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat.
Kritik an der Richtlinie
Im Vorfeld wurde von verschiedenen Seiten teils heftige Kritik am Richtlinien-Entwurf der EU-Kommission laut. So kritisierte die Bundesregierung oder zum Beispiel auch der Bundesverband der Freien Berufe insbesondere das sogenannte Herkunftslandsprinzip: Danach sollte der Dienstleister nach den rechtlichen Bestimmungen und Regeln seines eigenen Landes in einem anderen Staat arbeiten können. Dieses Prinzip ist nun im Wesentlichen durch das Bestimmungslandprinzip ersetzt: Die Berufsausübung erfolgt nach den Regeln des Gastlandes.
Durch das ursprünglich dominierende Herkunftslandsprinzip befürchteten deutsche Kritiker eine grenzüberschreitende Aufweichung geltender Lohn-, Sozial-, Sicherheits- und Umweltstandards zugunsten einer weitgehenden Liberalisierung. Der hier erzielte Kompromiss wird zwar von Regierungsseite nun als Erfolg dargestellt, ist aber durch teils weiche Formulierungen nicht immer eindeutig und dadurch in Teilen fragwürdig: So gilt z. B. das Kriterium der Verhältnismäßigkeit von Zugangsbeschränkungen. Damit sind im regelungsstarken Deutschland manche Vorschriften im europäischen Visier; werden doch ohnehin schon deutsche Regelungen — z. B. im Bereich der Freien Berufe die Honorarordnungen — immer wieder einmal von Brüssel kritisiert. Somit haben die Kammern und Verbände verschiedener Berufsgruppen ein elementares Interesse an der Auseinandersetzung mit der Dienstleistungsrichtlinie.
Aktuell: Umsetzung in Deutschland
Die Richtlinie überlässt die Umsetzung ihrer generellen Vorschriften den Mitgliedsstaaten. Zurzeit ist die nationale Umsetzung in vollem Gange; sie sollte ursprünglich bis zum Dezember 2008 abgeschlossen sein, dieses Ziel wurde aber vermutlich nicht in allen vier Bereichen erreicht:
das ‚Normenscreening’
Alle Mitgliedsstaaten müssen ihr geltendes Recht auf die Vereinbarkeit mit der Richtlinie überprüfen. Die Vorschriften müssen „einfach genug“ sein und dürfen den Vorgaben der Richtlinie nicht widersprechen. Die Prüfung erfolgt in Deutschland top down von Bundesgesetzen bis hin zu Verfahrensvorschriften; zuständig ist jeweils diejenige Ebene, die die Rechtsnorm zu verantworten hat, also durchaus auch Kammern mit ihren Zulassungsvorschriften oder Verbände, die in einzelnen Bereichen einen hoheitlichen Auftrag erfüllen, was Zulassung oder Berufsausübung ihrer Mitglieder angeht. Ggf. müssen dann Regelungen der Richtlinie angepasst oder sogar gestrichen werden.
die Schaffung ‚Einheitlicher Ansprechpartner’
Innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der Richtlinie müssen alle Mitgliedsstaaten ein Netz von „einheitlichen Ansprechpartnern“ schaffen. Das sind zentrale Stellen, die Informationen für Dienstleister bereithalten und bei denen alle Verfahren und Formalitäten abgewickelt werden können, die zur Erbringung einer Dienstleistung erforderlich sind. Zwar sind dadurch die Zuständigkeiten und Befugnisse vorhandener Behörden nicht berührt, es wird aber eine intensive Abstimmung und Vernetzung zwischen diesen und dem „einheitlichen Ansprechpartner“ vonnöten sein. Möchte z. B. ein ausländischer Gewerbetreibender in Deutschland arbeiten, wird er sich als Erstes an die zentrale Stelle wenden, die dann alles Nötige in die Wege leitet, z. B. die Erteilung einer Genehmigung durch die zuständige Behörde.
In Deutschland sollen diese zentralen Stellen nicht nur für Angehörige von anderen EU-Ländern zuständig, sondern Ansprechpartner auch für Inländer sein. Damit gewinnen sie über konkrete Zulassungsverfahren hinaus an Bedeutung als zentrale Informationsstellen. Im Gegensatz zu anderen EU-Staaten (z. B. wird es in Großbritannien nur eine zentrale Stelle mit einem Eingangsportal geben) hat das Bundeswirtschaftsministerium allerdings die Entscheidung zur Verortung der „einheitlichen Ansprechpartner“ dem föderalen Prinzip folgend an die Länder delegiert. Das bedeutet, dass es in jedem Bundesland unterschiedliche Verortungsmodelle und damit unterschiedliche Lobbywege für Verbände geben wird. Grundsätzlich stehen folgende Optionen offen: ein Kammermodell, ein Kommunalmodell, ein Landesmittelbehördenmodell oder ein Mischmodell. Da eigentlich bis Herbst 2008 alle Länder sich hierzu entschieden haben sollten, ist die Zeitspanne zur Einflussnahme auf die Verortung relativ kurz bemessen; allerdings haben sich bisher gerade die großen Bundesländer mit einer Entscheidung schwergetan. Wo die Verortung bereits vorgenommen wurde, ist sie sehr unterschiedlich ausgefallen: Schleswig-Holstein hat eine Anstalt öffentlichen Rechts unter Trägerschaft von Land, Kommunen und Kammern gewählt; Sachsen mit der Landesdirektion Leipzig ein Mittelbehördenmodell; Bremen sich für ein Kommunalmodell entschieden.
Die IT-Umsetzung
Innerhalb der Dreijahresfrist ist von den Mitgliedsstaaten auch sicherzustellen, dass alle Verfahren und Formalitäten elektronisch abgewickelt werden können. Dies soll für interessierte Dienstleister die Aufnahme ihrer Tätigkeit in einem anderen Staat erleichtern. Wesentlicher Baustein ist hier das geplante Binnenmarkt-Informationssystem IMI, das auch in anderen Bereichen, z. B. dem Geltungsbereich der Berufsanerkennungsrichtlinie, angewendet werden soll. In Deutschland wird hier das Projekt „Deutschland Online“ mit Priorität vorangetrieben.
Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Verhaltenskodizes
Die Aufnahme einer Dienstleistung in einem Mitgliedsstaat soll auch durch Maßnahmen begleitet werden, die die Qualität der Dienstleistung fördern und im Sinne des Verbraucherschutzes die Markttransparenz erhöhen. Hier finden insbesondere die Zertifizierung von Dienstleistungen durch unabhängige Einrichtungen und die Entwicklung oder Verbesserung von Qualitätsstandards oder Gütesiegeln durch Berufsverbände ausdrücklich Erwähnung.
Chance für Verbände
Eines ist klar: Auch Verbände, Kammern und ähnliche Organisationen kommen nicht an der Dienstleistungsrichtlinie und ihren Auswirkungen vorbei. Vogel-Strauß-Politik hilft nicht weiter; zu empfehlen sind eine aktive Auseinandersetzung und eine offensive Einflussnahme auf die Umsetzung der Richtlinie in Deutschland. Wenn Verbände ihre Haltung zu diesem europäischen „Produkt“ verändern, es nicht als überflüssiges und ihnen aufgezwungenes Regelwerk wahrnehmen, sondern es stärker als Chance zur Positionierung begreifen, eröffnen sich neue Möglichkeiten einer interessengeleiteten Verbandspolitik mit nicht zu vernachlässigendem Nutzen für Mitglieder.
Dazu drei Beispiele:
1. Mitgliederbindung durch praktische Europapolitik
Aus heutiger Sicht dürften in den meisten Fällen für die von Verbänden vertretenen Berufsgruppen im Dienstleistungsbereich wohl eher die vorübergehenden Dienstleistungen interessant sein, aber mit zunehmender Bekanntheit der Möglichkeiten der Richtlinie und angesichts aktueller Arbeitsmarktentwicklungen auf Dauer sicherlich auch die Niederlassungsfreiheit. Für diese Verbände entsteht hier zurzeit ein neues Aufgabenfeld, da ihre Mitglieder stärkeren Beratungsbedarf bezüglich einer Tätigkeit im europäischen Ausland haben werden und sich auch Berufsangehörige anderer Mitgliedsstaaten mit Fragen zur Arbeitsaufnahme in Deutschland an sie wenden werden. Sieht man dies als Teil einer Entwicklung zum steigenden Engagement von Verbänden in Brüssel, das als Parallelstrategie zur nationalen Lobbyarbeit immer wichtiger wird, lassen sich entsprechende Verbandsaktivitäten begründet in eine europazentrierte Lobbyarbeit einbauen.
2. Nutzung des Einheitlichen Ansprechpartners als strategisches Instrument der Öffentlichkeitsarbeit
Aktuell ist in den Bundesländern, in denen noch keine Verortungsentscheidung für den Einheitlichen Ansprechpartner getroffen ist, noch eine Einflussnahme durch Verbände im Prinzip möglich. Verbände könnten die für ihre jeweiligen Zwecke angemessene Lösung — Kammerlösung, Kommunalmodell oder andere — mit guten Argumenten gegenüber der Politik propagieren. In den Bundesländern, in denen bereits die Ansiedelung des Einheitlichen Ansprechpartner feststeht, steht jetzt als Nächstes an, sich an der Ausgestaltung zu beteiligen.
Wenn Verbände sich ohnehin für die Beratung ihrer Mitglieder über die Vorschriften der Richtlinie kundig machen müssen, können sie das gewonnene Wissen mit geringem zusätzlichen Aufwand in einer Art Dominoeffekt nutzen: Sie beteiligen sich an der Backoffice-Funktion des Einheitlichen Ansprechpartners und stellen den jeweiligen Einheitlichen Ansprechpartnern in den Bundesländern Informationen über die von ihnen vertretene Berufsgruppe, Standards und Kodizes sowie die entsprechenden Verfahrensvorschriften zur Verfügung. Gegebenenfalls etablieren sie sich durch vertragliche Vereinbarung auch selbst als Teil des Backoffice oder übernehmen Frontoffice-Funktionen.
Die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern und die Kammern der Freien Berufe sind, falls das Bundesland sich für ein Kammermodell entschieden hat, hier ohnehin aktiv und im Fall des Falles auch im Besitz des erforderlichen Wissens. Aber auch sie können nicht in jedem Fall qua Amt über die nötigen Informationen über spezifische Dienstleistungsbereiche verfügen und sind auf die Unterstützung der Verbände angewiesen. Dies gilt umso mehr für die neu geschaffenen Anstalten öffentlichen Rechts wie in Schleswig-Holstein oder ähnliche Modelle wie das Mittelinstanz-Modell in Sachsen-Anhalt, und erst recht für das kommunale Modell.
Auf diese Weise verbreitert sich das Wissen über die jeweilige Berufsgruppe und ihre Standards in einem bundesweiten System und wird für interessierte Berufstätige im In- und Ausland, aber auch für Politik und politische Administration verfügbarer. Dieser Effekt wird durch die angestrebte IT-Basis mit Portalfunktionen noch verstärkt. Hinzu kommt, dass die Etablierung der Strukturen des Einheitlichen Ansprechpartner von den Verantwortlichen als „Blaupause“ für eine Änderung des Verwaltungsverfahrensgesetzes, also als Erprobung ganz neuer Verfahrens- und Kommunikationsmuster in Verwaltungen, begriffen wird und so in Zukunft auch die Kommunikation von Verbänden wesentlich mitbetreffen wird. Das war eindrucksvoll in zwei Veranstaltungen zum Thema im Oktober 2008 zu erleben: beim „Deutschland-Online Kongress“ der „E-Government Community“ in Berlin und beim Kongress „Die Europäische Dienstleistungsrichtlinie und ihre Umsetzung — Innovationspotenziale für Wirtschaft und Verwaltung“ Mitte Oktober vergangenen Jahres in Bonn.
Eine Beteiligung am System der Einheitlichen Ansprechpartner geht also weit über den eigentlichen Aktionsradius der Dienstleistungsrichtlinie hinaus und kann als Maßnahme einer allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit und darüber hinaus durch die Steigerung des Bekanntheitsgrades vieler Berufsgruppen als Festigung der Basis für Lobbying verstanden werden. Verbände positionieren sich dadurch deutlicher als Ansprechpartner für Politik und politische Administration.
3. Positionierung durch Selbstregulierung
Einerseits wird in Deutschland das Deregulierungsbestreben der Europäischen Kommission durchaus kritisch bewertet, auf der anderen Seite bieten aber gerade die Vorgaben der Dienstleistungsrichtlinie einen erweiterten Gestaltungsrahmen für Verbände und Berufsorganisationen, sich mit ihren Standards, Qualitätsmaßstäben und Verhaltenskodizes zu positionieren und ihre Vorstellungen hierzu über die Einheitlichen Ansprechpartner zu etablieren. Die EU-Kommission hat im Dezember 2007 zusätzlich ein Papier „Qualität der Dienstleistungen — die Rolle von Europäischen Verhaltenskodizes“ herausgegeben, um Berufsorganisationen, die sich hier engagieren wollen, zu unterstützen. Außerdem liegt ein im Auftrag des BMWI erstelltes deutsches Gutachten „Qualitätsbewertung und Standardisierung von Dienstleistungen: Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen für die von der EU-Dienstleistungsrichtlinie erfassten Sparten“ vor.
Verbänden ist zu empfehlen, diese Aufforderung zur Selbstregulierung als Herausforderung offensiv anzunehmen, um in Zukunft in Europa bestehen zu können. Denn wenn Regulierung als Prinzip infrage steht, muss Vorsorge getroffen und eigene Standards müssen gesetzt werden. Dies gilt sicherlich vorrangig zunächst in den Bereichen, wo es in Deutschland keine Verkammerung gibt; daneben aber z. B. auch für die Kammern der Freien Berufe, deren Klientel zwar im Wesentlichen unter die Berufsanerkennungsrichtlinie fällt und damit Sonderregelungen in Anspruch nehmen kann, aber in Teilen durchaus auch unter den Regelungsschirm der Dienstleistungsrichtlinie „verschoben“ wurde. Im Handwerk sind ja seit längerer Zeit ebenso Deregulierungsmaßnahmen zu registrieren, die ein Umdenken erforderlich machen.
Weitere Infos:
www.dienstleistungsrichtlinie.de
www.dlr-kongress.de
www.deutschland-online.de