Umstritten war er, polarisiert hat er, aber am Ende hatte er fast immer Erfolg. Ludwig Max Goldberger, eine der schillerndsten Unternehmerpersönlichkeiten des kaiserlichen Berlin. Obwohl heute nahezu vergessen, hat sich ein von ihm geprägter Satz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert. 1903 schrieb Goldberger ein Buch über seine mehrmonatige Reise durch die USA. Dessen Titel ist sprichwörtlich geworden: „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Aber Goldberger war weit mehr als ein erfolgreicher Reiseschriftsteller. Er war einer der Mitbegründer der Dresdner Bank, die dominierende Persönlichkeit des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) und nicht zuletzt ein begnadeter Kommunikator, der erste moderne Lobbyist der Berliner Wirtschaft.
Dazu wurde Goldberger, nachdem er 1891 seine eigene Bank veräußerte. Von da an war er ein freier und finanziell unabhängiger Mann. Seine Dynamik suchte sich sofort neue Aufgaben. Ein Betätigungsfeld bot sich an: der angeschlagene Verein Berliner Kaufleute und Industrieller. Der war im Jahre 1879 als Opposition gegen die mächtige Korporation der Kaufmannschaft, bis dahin die einzige wirtschaftliche Interessenvertretung Berlins, gegründet worden. Im VBKI sammelte sich der industrielle Mittelstand. Dessen Vertretern war es nicht gelungen, im eigentlichen Machtzentrum der Berliner Wirtschaft, dem von Bankiers und Börsianern dominierten Ältestenkollegium der Korporation, mehr Mitsprache zu erlangen. Als Goldberger 1892 zum neuen VBKI-Präsidenten gewählt wurde, stellte er den Verein in kurzer Zeit völlig neu auf und rief die Korporation zum Hauptgegner aus. An ihre Stelle wollte er eine Handelskammer setzen. So erhoffte er sich, die Macht der Finanzwelt zu brechen, um Handel und Industrie mehr Mitsprache in der zu schaffenden Kammer einzuräumen.
Mit Goldberger gewann der VBKI einen begnadeten Strippenzieher, der die Klaviatur der Machtspiele auf dem „politischen Massenmarkt“ des Kaiserreiches völlig beherrschte. Um dort seine Ziele durchzusetzen, bediente er sich auch Maßnahmen, die von heutigen PR-Spezialisten als „Agenda Setting“ bezeichnet werden würden. Er brachte das Thema Handelskammer überall auf die Tagesordnung, indem er kommunikativ alle maßgebenden Akteure in seine Planungen einband: die Standesgenossen, die Medien, das Parlament und Kaiser Wilhelm II.
Bis zu Goldbergers Auftritt funktionierte Lobbying nach Art der Korporationsältesten: Teetrinken in der Reichskanzlei und Hintergrundgespräche im Club von Berlin. Spätestens seit der „Gründerkrise“ der 1870er-Jahre reichte diese Form der Einflussnahme nicht mehr aus. Interessen mussten jetzt viel lauter vorgetragen werden. Parlamente und die Öffentlichkeit wurden neben der Regierung zu neuen Zielgruppen der sich nun entwickelnden modernen Verbände. Ihnen hatten die Ältesten, die bis Mitte der 1870er-Jahre über die wirtschaftspolitische Lufthoheit im Regierungsviertel verfügten, nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Sie favorisierten weiterhin das persönliche Gespräch. Anders Goldberger, er verstand den Zusammenhang zwischen Politik und Öffentlichkeit.
Diskussionen um die Neuordnung des preußischen Handelskammergesetzes nutzte Goldberger sogleich, um beim Handelsminister für die Abschaffung der Korporation zu werben. Beim Minister traf er auf Wohlwollen. Die Korporation hatte sich während der Debatten um die Börsengesetzgebung dessen Unmut zugezogen. Als Eigentümerin der Berliner Börse, damals eine der drei wichtigsten Börsen der Welt, war die Korporation dort stark engagiert. Sie lehnte Staatseingriffe in das Börsenwesen strikt ab. Dagegen plädierte Goldberger für eine beschränkte Staatsaufsicht. Durch diesen Schachzug gelang es ihm, den VBKI innerhalb der preußischen Bürokratie als mögliche Berliner Alternative zur Korporation zu positionieren.
Aber nicht nur das Handelsministerium machte sich Goldbergers Ideen zu Eigen, sondern auch die Konservativen im Preußischen Landtag. Deren Parlamentarier Bernhard Felisch brachte dort im Februar 1900 die Resolution ein, in Berlin eine Handelskammer zu gründen. Auch hinter dieser Initiative steckte Goldberger. Felisch und er waren seit langem gut bekannt. Sie hatten 1896 gemeinsam die Berliner Gewerbeausstellung organisiert, und Felisch bediente sich im Landtag genau der Goldberger’schen Argumentationslinie. Der VBKI-Präsident ging damals ein riskantes Spiel ein: Er setzte auf die Konservativen. Wirtschaftspolitisch standen sie der Korporation und eigentlich auch dem VBKI in erbitterter Feindschaft gegenüber.
Nachdem er die Ministerialbürokratie auf seine Seite gebracht hatte, gelang es Goldberger, die Korporation nun auch parlamentarisch in die Zange nehmen zu lassen. Vom Landtag wurde der Handelsminister aufgefordert, die Errichtung einer Handelskammer für Berlin zu prüfen. Goldberger ließ es dabei nicht bewenden. In einem mehrere Seiten umfassenden Neujahrsschreiben an Wilhelm II. machte Goldberger auf die Zwistigkeiten innerhalb der Berliner Kaufmannschaft aufmerksam. Der Kaiser forderte vom Handelsminister einen Bericht über die Auseinandersetzung an. Goldbergers Brief klingt anbiedernd, ist aber ein Beispiel für perfektes Lobbying. Seine Wortwahl schmeichelte dem Kaiser, der für diese Form der Huldigung sehr anfällig war. Das wusste Goldberger, und seine Charmeoffensive brachte den Erfolg. Wilhelm II. ließ seinen Handelsminister wissen, dass er eine Handelskammer in Berlin wünsche. Alle VBKI-Neujahrsschreiben an den Kaiser umfassten übrigens nach Errichtung der Kammer kaum mehr als eine Seite.
Goldberger holte nun zum finalen kommunikativen Schlag aus. Der Handelsminister versprach, dass er eine Handelskammer in Berlin einrichten würde, wenn die Kaufmannschaft das wünsche. Der VBKI nahm die ministerielle Einladung an und organisierte im Januar 1901 eine Umfrage unter allen im Handelsregister eingetragenen Berliner Unternehmen. Die große Mehrheit votierte für die Errichtung der Handelskammer. Nahezu alle Berliner Blätter berichteten über die Umfrage. Mit ihr hatte Goldberger das Thema in den Medien und der Öffentlichkeit platziert. Erfolgreicher kann Agenda Setting nicht betrieben werden, denn der Zeitpunkt der Rundfrage war taktisch geschickt gewählt. Kurze Zeit später stand das Thema wieder auf der Tagesordnung des Landtages. Unter dem Druck der Politik und dem eindeutigen Votum der Berliner Wirtschaft machten die Abgeordneten den Weg zur Gründung der Handelskammer frei. Goldberger und der VBKI hatten einen großen Sieg errungen.
In Sachen Kommunikation und Lobbying ließ Goldberger die Ältesten tatsächlich alt aussehen. Sie hatten die öffentliche Wirkung der Auseinandersetzung völlig unterschätzt und konnten die Sache in den Hinterzimmern nicht mehr zu ihren Gunsten wenden. Zu stark war die Phalanx, die Goldberger in Politik und Öffentlichkeit aufgebaut hatte. Dass sich an dem erfolgreichen Spindoktor Goldberger die zeitgenössischen Geister schieden, war unausweichlich. Die Freunde rühmten seine ungeheure Tatkraft, während die Gegner ihn für einen „rücksichtslosen Streber“ hielten. Wie dem auch sei, Berlin und der VBKI haben Goldberger viel zu verdanken. Die Stadt etwa die spektakuläre Gewerbeausstellung von 1896 und der Verein nichts weniger als seine heutige Bedeutung. Von daher ist die Entscheidung des VBKI vom August 2006 verständlich, seinen Clubraum nach dem Mann zu benennen, den das „Kleine Journal“ am Ende seines Lebens als den „Generalfeldmarschall des deutschen Handels“ bezeichnet hat.