Zu den wesensmäßigen Zielen von Berufs- und Wirtschaftsverbänden gehört die Förderung der allgemeinen Interessen der Verbandsmitglieder, so etwa von branchenangehörigen Mitgliedsunternehmen in Wirtschaftsverbänden oder Angehörigen einer bestimmten Berufsgruppe bei Berufsverbänden. In der Verbandspraxis namentlich von Wirtschaftsverbänden werden häufig Verbandsrichtlinien in Gestalt sogenannter Verhaltenskodizes vom Wirtschaftsverband erlassen. In solchen Verhaltenskodizes werden etwa bestimmte Verfahren vorgegeben, die einen fairen Wettbewerb der branchenangehörigen Verbandsunternehmen regeln sollen. Der Bundesgerichtshof hatte in einem Urteil vom 9. September 2010 (Az.: II ZR 157/08) Gelegenheit, sich mit wettbewerbsrechtlichen, aber letztlich auch vereinsrechtlichen Aspekten solcher Verhaltenskodizes zu beschäftigen.
Dem Urteil lag ein Fall zugrunde, wo ein Wirtschaftsverband, organisiert als eingetragener Verein, einen Verhaltenskodex erlassen hatte, der die Mitgliedsunternehmaen zu einem bestimmten Verhalten im Zusammenhang mit branchenspezifischen Veranstaltungen verpflichtet. Konkret ging es um Restriktionen bei der Verteilung von „Geschenken“ im Rahmen solcher Veranstaltungen, die im Verhaltenskodex nur in einem eng umgrenzten Umfang zulässig waren. Auf Basis dieses Verhaltenskodex hatte dann der Wirtschaftsverband ein Unternehmen, welches nicht Mitglied war, wegen einer Veranstaltung wettbewerbsrechtlich abgemahnt, die nach Meinung des Wirtschaftsverbandes gegen Grundsätze des Verhaltenskodex verstoßen hat.
Während das Berufungsgericht der auf wettbewerbsrechtliche Unterlassung gestützten Klage des Wirtschaftsverbandes gegen das die Veranstaltung durchführende Unternehmen noch recht gegeben hat, hat der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung geurteilt, dass dem Wirtschaftsverband ein wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsanspruch gegen das fragliche Unternehmen gerade nicht zustehe. Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung ging es auch um die für die Verbandspraxis wichtige Reichweite von Verhaltensrichtlinien in Berufs- und Wirtschaftsverbänden.
Der Bundesgerichtshof hat hier geurteilt:
„Für die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten als unlauter im Sinne von § 3 Absatz 1 UWG 2008 zu beurteilen ist, haben Regeln, die sich ein Verband oder ein sonstiger Zusammenschluss von Verkehrsbeteiligten gegeben hat, nur eine begrenzte Bedeutung. Ihnen kann zwar unter Umständen entnommen werden, ob innerhalb der in Rede stehenden Verkehrskreise eine bestimmte tatsächliche Übung herrscht. Aus dem Bestehen einer tatsächlichen Übung folgt aber noch nicht, dass ein von dieser Übung abweichendes Verhalten ohne Weiteres als unlauter anzusehen ist. Der Wettbewerb würde in bedenklicher Weise beschränkt, wenn das Übliche zur Norm erhoben würde. Regelwerken von „Wettbewerbsverbänden“ kann daher allenfalls eine indizielle Bedeutung für die Frage der Unlauterkeit zukommen, die aber eine abschließende Beurteilung anhand der sich aus den Bestimmungen des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ergebenden Wertungen nicht ersetzen kann.“
Hier stellt der Bundesgerichtshof eine eigentliche Selbstverständlichkeit fest. Selbstverständlich handelt es sich bei Verbandsrichtlinien nicht um objektives Recht. Verbandsrichtlinien binden zwar die Verbandsmitglieder, also die Mitgliedsunternehmen in Wirtschaftsverbänden bzw. die berufszugehörigen Mitglieder in Berufsverbänden. Entscheidend für die Reichweite ist aber zunächst einmal die vereinsrechtliche Mitgliedschaft im Wirtschafts- oder Berufsverband. Die Bindungswirkung ergibt sich nämlich nicht aus der Geltung der Verhaltensrichtlinien als solchen, sondern aus der Tatsache, dass sich die Mitglieder in einem Verein regelmäßig verpflichten, neben der Satzung auch das sonstige Vereinsrecht, welches durch die Mitgliederversammlung des Verbandes in zulässiger Art und Weise zustande gekommen ist, zu beachten. Wollen sie dies nicht, so handeln sie in der Regel gegen die Verbandszwecke und müssen aus dem Verband austreten bzw. bieten Anlass für einen Ausschluss aus dem Verband.
Eine Verbandsrichtlinie hat nur indiziellen Charakter
Objektives Recht, d. h. Rechtssetzung, die alle branchenangehörigen Unternehmen losgelöst von der Verbandsmitgliedschaft bindet, sind Verhaltensrichtlinien von solchen Verbänden nicht, da objektives Recht nur durch den hierfür befugten Gesetzgeber gesetzt werden kann. Von daher kann der Bundesgerichtshof einer Verbandsrichtlinie auch nur indiziellen Charakter für den Regelungsgegenstand der Verbandsrichtlinie geben. Sind mit anderen Worten große Teile der branchenangehörigen Unternehmen in einem Wirtschaftsverband organisiert und stellen diese eine bestimmte Richtlinie als für sie und ihre Branche zutreffend in einer Verbandsrichtlinie fest, so hat dies eine gewisse Indizwirkung für geschäftliche Gepflogenheiten innerhalb dieser Branche, was dann seinerseits wieder Rückschlüsse auf wettbewerbsgemäßes bzw. wettbewerbswidriges Verhalten Dritter zulässt. Eine darüber hinausgehende quasi objektiv rechtsetzende Wirkung kommt solchen Verhaltensrichtlinien nicht zu. Damit binden Verbandsrichtlinien keine außenstehenden Nichtmitglieder.
Die vorstehende Entscheidung, die sicherlich aus rechtssystematischen Gründen zutreffend ist, hat im Bereich der Wirtschaftsverbände Bedeutung über die Verbandsrichtlinien in Gestalt von Verhaltenskodizes hinaus. So ist etwa im Bereich der Wirtschaftsverbände auch verbreitet das Phänomen sogenannter Normungsrichtlinien anzutreffen. Innerhalb von technischen Ausschüssen von Wirtschaftsverbänden schließen sich nämlich die Mitgliedsunternehmen zusammen, um bestimmte Normungsverfahren bzw. Regelwerke in technischer Hinsicht festzusetzen, die dann in der Branche eine gewisse Geltung beanspruchen. Auch solche Normen von Wirtschaftsverbänden sind letztlich nur eine Verbandsrichtlinie, die kein objektives Recht setzt und damit Nichtmitgliedsunternehmen von vorneherein nicht bindet. Zwar haben die Normungen innerhalb der betroffenen Wirtschaftskreise der Branche eine gewisse Bedeutung, da man sich im Geschäftsverkehr rein faktisch häufig den Normungen unterwirft. Es besteht jedoch kein Anspruch gegenüber Dritten, solche Normen auch tatsächlich einzuhalten, wenn etwa Mitgliedsunternehmen hiergegen verstoßen. Ein in der technischen Praxis wichtiger Normgeber ist das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN), welches die seit vielen Jahrzehnten in der Technik eingesetzten DIN-Normen erlässt. Auch diese DIN sind letztlich mit Vertretern einer bestimmten Branche konsensorientierte Normen, die letztlich den Stand der Technik repräsentieren sollen. Quasi-Gesetzescharakter kommt auch solchen Normen nicht zu.