Wie sinnvoll ist die vollständige Aufhebung der Maskenpflicht? - Dr. med. Matthias Berndt: "Vor allem Wahlkampf und medizinischer Unsinn!"
(Hannover) - Der aktuelle ÄKN-Live-Talk "Zur Sache Corona" vom 14. Juni legte den Fokus auf die Situation niedergelassener Ärztinnen und Ärzte - zu Gast: der Facharzt für Allgemeinmedizin und Vorsitzende des Landesverbands Niedersachsen des Deutschen Hausärzteverbands e. V. Dr. med. Matthias Berndt.
Im Interview mit ÄKN-Kommunikationschef Thomas Spieker ging es um COVID-19-Impfungen, den digitalen Impfpass, die Maskenpflicht und Berndts konkrete Forderungen an die Politik.
Warum er die vollständige Abschaffung der Maskenpflicht als reinen Wahlkampf und medizinischen Unsinn bezeichnet, wie der digitale Impfpass den bürokratischen Aufwand in ambulanten Praxen noch mehr steigert und warum beim zukünftigen Katastrophenschutz vor allem den Staat in der Pflicht ist - das alles waren Themen der aktuellen 26. Folge des Live-Talks "Zur Sache Corona" der Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN) am 14. Juni 2021. Im ÄKN-Studio zu Gast war der Facharzt für Allgemeinmedizin und erste Vorsitzende des Landesverbands Niedersachsen des Deutschen Hausärzteverbands e. V. Dr. med. Matthias Berndt.
Aktuelle Impfsituation und digitaler Impfpass
Im Gespräch mit ÄKN-Kommunikationschef Thomas Spieker ging es zu Beginn um die Versorgung mit Impfstoff gegen Covid-19 und den digitalen Impfpass. Berndt kritisierte den weiter anhaltenden Mangel an Impfstoff und sagte, er bestelle immer nur noch Impfberechtigte in seine Praxis, wenn er auch wirklich wisse, dass der Impfstoff geliefert werde. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Impfungen gegen Covid-19 zeigte er sich dennoch zuversichtlich. "Wir kommen gut voran, im Herbst wird jeder ein Impfangebot erhalten haben." Den digitalen Impfpass hingegen bewertete Berndt als nicht hilfreich und überflüssig. "Das ist kein digitaler Impfpass, das ist ein digitaler Nachweis einer Covid-19-Impfung. Ein Pass würde alle Impfungen aufzeigen, die eine Person bisher erhalten hat", sagte er im Gespräch mit Moderator Thomas Spieker. Berndt verglich die Debatte unter anderem mit den Testungen von Reiserückkehrenden im vergangenen Sommer. So zähle auch beim digitalen Impfpass vor allem die Schlagzeile, es hapere jedoch an der operativen Umsetzung. So seien bei den Tests für zurückkehrende Urlauber etwa die Abrechnungsmodalitäten und Testmodalitäten für durchführende Ärztinnen und Ärzte nicht geklärt gewesen. Ob der digitale Nachweis die Arbeit in der Praxis erleichtere? "Nein, jetzt schon dokumentieren wir jede Impfung digital.[...] Warum jetzt etwas Neues erfunden werden musste, ist mir völlig schleierhaft", bewertete der Allgemeinmediziner den neuen digitalen Nachweis.
Mit Blick auf die aktuelle Situation bei Impfungen und Impfstoffen formulierte Berndt deutliche Forderungen. So sei die Politik dafür da, Vorgaben zu entwickeln, Rahmen zu gestalten, Prozesse zu definieren und die Infrastruktur zu sichern. "Mein großer Wunsch an die Politik ist, dass Impfstoffe vorrätig sind und vorgehalten werden!" Dies betreffe auch andere Impfstoffe, bei denen es oftmals zu Lieferengpässen komme - wie etwa bei dem gerade nicht verfügbaren Gelbfieber-Impfstoff.
Aufhebung der Maskenpflicht
Die aktuelle Diskussion über Aufhebungen der Maskenpflicht in Innenräumen und Lockerungen war ebenfalls Thema im Talk. Dies hake er unter Wahlkampf ab, so Berndt. Er wies darauf hin, dass hier das weitere Vorgehen gut abgewägt werden müsse und sprach sich für ein zurückhaltendes und vorsichtiges Herantasten an die Normalität aus. "Denn wir brauchen Normalität. Sonst haben wir Kollateralschäden in anderen Bereichen, bei Kindern sehen wir das." Der Vorsitzende des niedersächsischen Hausärzteverbands betonte: "Auch wenn die Bundestagswahl ansteht, ist mein Appell an die Politik, dass nicht jeder und jede aufgrund des Wahlkampfs seine Meinung äußert, nur um in den Medien präsent zu sein." Auf die Frage von Thomas Spieker, ob die Debatte um die völlige Abschaffung der Maskenpflicht reiner Wahlkampf sei, fand Berndt klare Worte: "Vor allem Wahlkampf und medizinischer Unsinn."
Lehren aus der Pandemie
Über die aus der bisherigen Zeit der Pandemie gewonnenen Erkenntnisse sagte Berndt, dass man künftig ein Risikobewusstsein aufbauen müsse und dass vor allem Lieferketten nicht "just in time" organisiert sein dürften. So sei es aus seiner Sicht zum Beispiel nicht die Aufgabe von Praxen oder Krankenhäusern, Masken für fünf Monate vorzuhalten, dies sei eine staatliche Aufgabe. Seine wichtigste Forderung für die Zukunft: "Wir brauchen eine Bevorratung und müssen uns den Luxus gönnen, einen gewissen Vorrat an Medizinprodukten, Masken und Medikamenten zu haben." Denn "hätten wir Vorräte an Masken gehabt, hätte es viel, viel weniger Tote gegeben!", sagte er im Rückblick auf den Beginn der Pandemie, als Schutzausrüstungen bundesweit Mangelware waren. Außerdem habe es Risikopläne gegeben, die nicht umgesetzt worden seien. Zugleich wies Berndt aber auch auf die Leistung des starken ambulanten Sektors in Deutschland hin: Er habe im Vergleich zu Italien oder anderen Ländern zu Beginn der Covid-19-Pandemie sehr viel dazu beigetragen, das Infektionsgeschehen einzudämmen.
Neben den strukturellen Herauforderungen kamen auch die medizinischen Auswirkungen der Pandemie im Talk zur Sprache. So erzählte Berndt, dass er im Lauf der Zeit mehr als 550 Covid-19-Infizierte behandelt habe - und zwar das ganze Spektrum von Schwerstkranken bis hin zu leichten Verläufen. In diesem Zusammenhang ging er auch auf die vielfältigen, unspezifischen Symptome des Post-Covid-19-Syndroms ein und die Problematik, dass dafür extra eingerichtete Ambulanzen seit Monaten ein Aufnahmestopp hätten. Betroffenen fehlten regelrecht Anlaufstellen. Erfahren Sie mehr über die Themen des Talks und schauen Sie sich die vollständige Aufzeichnung an. Der Mittschnitt der erkenntnisreichen Diskussion kann jetzt auf der Webseite der ÄKN oder auf dem YouTube-Kanal jederzeit abgerufen werden.
(Hinweis: Mit Quellenangabe "ÄKN" ist der Talk für alle Radio- und Fernsehsender nutzbar.)
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