Weltkrebstag 2022: Versorgungslücken schließen - auch in Pandemiezeiten
(Berlin) - In den letzten zwei Jahren der COVID-19-Pandemie ist sehr deutlich geworden, wie herausfordernd es ist, das gewohnte Spektrum einer exzellenten ambulanten und stationären Versorgung von Patient*innen mit Krebserkrankungen zu gewährleisten. Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. hat seit Beginn der COVID-19-Pandemie als "Stimme der Onkologie" die Sicherstellung der Versorgung wesentlich befördert, beispielsweise durch die Erstellung von Handlungsempfehlungen und Leitlinien und darüber hinaus durch eine intensive Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften und Patientenorganisationen wie das Haus der Krebs-Selbsthilfe - Bundesverband e. V.
Was ist das langfristige Ziel?
Ziel muss es sein, eine exzellente Versorgung für alle Patient*innen - unabhängig von geographischem Standort, Schulabschluss, Ausbildung, Einkommen, Ethnizität, Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter, Behinderung, Lebensstil oder anderen individuellen Faktoren sicherzustellen. Denn trotz beeindruckender Fortschritte in der Krebsvorsorge, -diagnose und -behandlung stoßen Menschen immer wieder an Grenzen der Versorgungsgerechtigkeit. Die auf drei Jahre angelegte Kampagne 'Close the care gap' widmet sich in jedem Jahr einem spezifischen Fokus. Ziel des diesjährigen Weltkrebstages ist es, die weiterhin bestehenden Versorgungslücken zu beschreiben und besser verstehen zu lernen ('realizing the problem'). In den kommenden zwei Jahren folgen 'uniting our voices and taking action' und 'together, we challenge those in power'. Die DGHO als wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaft ist dem Fortschritt verpflichtet und sieht es als eine ihrer wesentlichen Aufgaben an sicherzustellen, dass Innovationen des Fachgebiets rasch in die Regelversorgung von Patient*innen integriert und dabei allen Betroffenen zugänglich gemacht werden. Insofern trägt die DGHO das Anliegen des Weltkrebstages mit und möchte das Bewusstsein für das Thema Versorgungslücken in der Breite wecken.
Versorgungslücken schließen: Durch effizienten Wissenstransfer
Die Hämatologie und Onkologie ist eine der innovativsten Fachdisziplinen in der gesamten Medizin. Seit Jahren erlebt das Fachgebiet einen dramatischen Wissenszuwachs. Dabei nehmen die Tiefe und der Detailgrad des Wissens stetig zu. Die sich kontinuierlich ändernden Diagnostik- und Therapiestandards müssen daher seitens der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften so aufbereitet und den ärztlichen Kolleg*innen zur Verfügung gestellt werden, dass sie in ihrem klinischen Alltag auf diese für die ihnen anvertrauten Patient*innen relevanten Informationen zugreifen können. "Die rasche Integration von Innovationen - besonders in der medikamentösen Therapie - in die flächendeckende Versorgung von Patientinnen und Patienten mit hämatologischen und onkologischen Erkrankungen ist ein wichtiges Ziel, für dessen Realisierung wir uns als wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaft einsetzen und damit unseren Beitrag zum Fortschritt in der Krebsmedizin beitragen", erläutert Prof. Dr. med. Hermann Einsele, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO und Direktor der Medizinischen Klinik II des Universitätsklinikums Würzburg. Gemeinsam mit den Schwestergesellschaften aus Österreich und der Schweiz sowie Kolleg*innen anderer Fachgebiete definiert die DGHO mit den Onkopedia-Leitlinien den Stand des medizinischen Wissens und setzt damit evidenzbasierte Medizin in aktuelle Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von hämatologischen und onkologischen Erkrankungen um. "Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fächer und die zügige Aktualisierung der Onkopedia-Leitlinien tragen wir dazu bei, dass möglichst viele Patientinnen und Patienten von den modernen Behandlungsstrategien profitieren können", so Prof. Dr. med. Andreas Hochhaus, Vorsitzender der DGHO und Direktor der Abteilung Hämatologie und Internistische Onkologie des Universitätsklinikums Jena. "Wenn wir - entsprechend dem Motto des Weltkrebstags - mögliche, bestehende Lücken in der Versorgung von Patientinnen und Patienten schließen wollen, dann müssen wir durch eine wissensgenerierende Versorgung evidenzbasierte, maßgeschneiderte und patientenzentrierte Konzepte in der Prävention, Früherkennung, Therapie, Rehabilitation und Nachsorge kontinuierlich weiterentwickeln und - wenn nötig - anpassen", ergänzt Einsele.
Gründung des Arbeitskreises Diversitäts- und Individualmedizin in der DGHO
Wissenschaftliche Studien, die im Rahmen der COVID-19-Pandemie durchgeführt worden sind, konnten u. a. zeigen, dass zum Beispiel Faktoren wie Geschlecht, Ethnie oder Alter einen wesentlichen Einfluss auf den Erkrankungsverlauf von Patient*innen haben. Die Frage, ob und inwieweit diese Einflussfaktoren auch bei hämatologischen und onkologischen Erkrankungen von Relevanz sind, war einer der primären Fragestellungen des im Jahr 2021 gegründeten DGHO-Arbeitskreises 'Diversitäts- und Individualmedizin' (AK DIM). "Wir brauchen dringend mehr Erkenntnisse zum Einfluss von individuellen Faktoren auf den Verlauf, die Therapierbarkeit und das Management von Krebserkrankungen", betont Prof. Dr. med. Marie von Lilienfeld-Toal vom Universitätsklinikum Jena und Vorsitzende des Arbeitskreises. Für die DGHO hat dieser neue Fokus unmittelbare Relevanz im Sinne der Erweiterung der wissenschaftlichen Perspektiven und der Verbesserung der Versorgung von Patient*innen. Dabei umfassen individuelle Aspekte beispielsweise zunächst biologische Faktoren wie Geschlecht, Ethnie, Alter, Gewicht oder genetische Polymorphismen und darüber hinaus sozioökonomische Faktoren wie Bildungsstand, Einkommen oder Familienstatus. Diese sozioökonomischen Aspekte sollen hinsichtlich ihres Einflusses auf die Biologie und den Verlauf hämatologischer und onkologischer Erkrankungen sowie die Verträglichkeit und Steuerung von entsprechenden Therapien näher untersucht werden. "Durch die Analyse der Einflüsse von Diversitätsaspekten soll eine - im umfassenden Sinne - individuelle Medizin in der Krebsheilkunde ermöglicht werden", erläutert Prof. Dr. med. Anne Letsch vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises. Dieser soll projektbezogen arbeiten und vor allem als Plattform für wissenschaftliche Kooperationen für die Erstellung von Meta-Analysen, Registern, klinischen Studien und Leitlinienempfehlungen und durch Symposien, Fortbildungsveranstaltungen und die Publikation von Artikeln die Wahrnehmung dieses Themas sowohl in der Fach- als auch in der Laienöffentlichkeit erhöhen. Mit Blick auf das Motto des diesjährigen Weltkrebstages betont Prof. Dr. med. Monika Engelhardt vom Universitätsklinikum Freiburg und Mitglied des Arbeitskreises: "'Close the gap' heißt für mich, die Schwerpunkte 2022 bis 2024 'realizing the problem, uniting voices und challenging those in power' interdisziplinär anzugehen und die Versorgung von Menschen mit Krebs zu verbessern. Hier will der Arbeitskreis Individual- und Diversitätsmedizin der DGHO einen Beitrag leisten."
Was können wir aus der Pandemie lernen?
"Angesichts aktueller Zahlen, die auf einen möglichen Rückgang neu diagnostizierter Krebserkrankungen seit Beginn der COVID-19-Pandemie hinweisen, ist es notwendig, potenzielle Versorgungsdefizite in den Fokus zu rücken", so die Forderung von Hedy Kerek-Bodden, Vorsitzende Haus der Krebs-Selbsthilfe - Bundesverband e.V. Hinzukommen seitens der Patient*innen sozioökonomische und individuelle Faktoren, die einen optimalen Krankheitsverlauf negativ beeinflussen können, und die in der Bundesrepublik Deutschland bisher zu wenig untersucht sind. Das Haus der Krebs-Selbsthilfe - Bundesverband e. V. unterstützt daher die angelaufene Studie zu Krebs und Armut des OECI (Organisation of European Cancer Institutes). Auch in diesem Sinne ist das Motto des Weltkrebstages 2022 'Close the care gap' - also Versorgungslücken schließen - zu interpretieren.
Die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie hat den Einfluss beispielsweise ethnischer und sozioökonomischer Faktoren auf die Ausprägung von Infektionserkrankungen unterstrichen, und zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen konnten den signifikanten Einfluss von Geschlecht, sozioökonomischen und ethnischen Faktoren auf das SARS-CoV-2-Infektionsrisiko und die COVID-19-Erkrankungsschwere in multiplen Bevölkerungsgruppen zeigen. Insbesondere äußert sich dies in einem ungünstigeren Verlauf bei Erkrankten männlichen Geschlechts sowie bei Menschen mit einem geringen sozioökonomischen Status. Übertragen auf Krebserkrankungen liegen Daten aus Deutschland vor, die einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Benachteiligung und der Entwicklung von Krebserkrankungen zeigen. "Um diese Determinanten besser zu verstehen und moderne Diagnostik, innovative Therapien und umfassende unterstützende Angebote an die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen, sind weitere Untersuchungen dringend erforderlich", betont Einsele.
Klinische Studien: Essenziell für den medizinischen Fortschritt
Um den Einfluss von Diversitätsaspekten systematisch zu evaluieren, sind klinische Studien unabdingbar. In Studien zur Arzneimittelzulassung werden zum Teil unter dem Oberbegriff 'spezielle Populationen' bereits bestimmte Gruppen von Patient*innen getrennt analysiert. Meist erfolgt dabei eine Differenzierung hinsichtlich Alter, Geschlecht, ethnischer Subgruppen und medizinischer Faktoren wie beispielsweise eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion. Allerdings bestehen weiterhin große Lücken, so z. B. bei Erkenntnissen zu älteren Patient*innen, die seltener in klinische Studien eingeschlossen werden. Auch gibt es noch keinen Konsens über die notwendigen Daten für ethnische Subgruppen. Die fehlende Repräsentation von entsprechenden Kohorten in klinischen Studien ist in der wissenschaftlichen Literatur wiederholt beschrieben worden. Der International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use (ICH) hat zu einigen Themen Richtlinien formuliert, die in der Arzneimittelprüfung Anwendung finden sollen. Oft gelten allerdings noch immer Ausschlusskriterien, z. B. orientiert an das kalendarische Alter, und funktionelle Kriterien werden kaum berücksichtigt. Dabei wächst das Bewusstsein zunehmend, dass die Prüfung von Arzneimitteln allein an eng definierten Populationen (kaukasisch, mittleres Alter etc.) nicht ausreicht, und damit auch die Intention, hier intensiviert Forschung zu betreiben. Eine wichtige Forderung des Arbeitskreises DIM der DGHO ist daher die Analyse bestehender Daten zur Aufdeckung bisher nicht erkannter Einflüsse diverser Subgruppen, die Entwicklung adäquater Untersuchungsmethoden und die Definition einheitlicher Qualitätsanforderungen für entsprechende Studien.
Klinische Studien: Das Thema der diesjährigen DGHO-Frühjahrstagung
Im Zentrum der diesjährigen virtuellen Frühjahrstagung der DGHO (16. Februar, 9. und 30. März 2022) steht der Austausch über die Herausforderungen, die mit der Konzeption, Durchführung und Interpretation klinischer Studien einhergehen. Die virtuelle Frühjahrstagung bietet somit ein ideales Forum, um Aspekte der Diversitäts- und Individualmedizin in der Hämatologie und Onkologie zu adressieren. PD Dr. med. Annamaria Brioli vom Universitätsklinikum Greifswald und Gründungsmitglied des Arbeitskreises DIM präzisiert zu dem Thema klinische Studien und Versorgungslücken: "Wenn wir die Themen des Weltkrebstages 2022 bis 2024 konkret denken, heißt das zunächst, ein Bewusstsein für bestehende Versorgungslücken zu schaffen. Im weiteren Schritt ('uniting our voices and taking action') bedeutet es, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgerufen sind, marginalisierte Personengruppen in klinische Studien zu integrieren und klinische Forschung damit so zu gestalten, dass sie für alle Bevölkerungsgruppen offen ist. Schließlich meint 'together, we challenge those in power', dass alle Menschen mit Krebs sowohl in Forschung als auch in der Versorgung bestmöglich berücksichtigt werden."
Krebserkrankungen nehmen kontinuierlich zu
Die Prävalenz von Krebserkrankungen nimmt kontinuierlich zu. Dies wird vor allem durch die demografische Entwicklung und die damit einhergehende steigende Lebenserwartung der Bevölkerung mit höherer Wahrscheinlichkeit an Krebs zu erkranken erklärt. Auch ein verstärktes Screening sowie verbesserte Diagnosemethoden tragen dazu bei, Krebserkrankungen frühzeitiger zu erkennen. "Nicht zuletzt haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aber vor allem auch die Überlebenswahrscheinlichkeiten im Falle von Krebserkrankungen verbessert, wodurch sich die Zahl der Patientinnen und Patienten weiter erhöht", betont Hochhaus. Ende 2017 lebten in der Bundesrepublik Deutschland mit 4,65 Millionen mehr Menschen als je zuvor mit der Diagnose Krebs. Aktuelle Daten vom November 2021 zeigten nach Bereinigung um demografische Einflüsse zudem einen leichten Rückgang der Krebssterblichkeit. Ein Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Krebssterblichkeit lässt sich somit in Deutschland derzeit nicht nachweisen. Allerdings ist mit sichtbaren Auswirkungen von Pandemiemaßnahmen auf Krebserkrankungen, insbesondere auf die krebsbedingte Sterblichkeit, zu rechnen. Diese erfreuliche Entwicklung ist größtenteils den konkreten Umsetzungen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen zu verdanken. 'Close the care gap' kann somit auch als Aufforderung verstanden werden, mehr Bewusstsein für Ungleichheiten im Gesundheitssystem zu schaffen - und zwar sowohl auf der Ebene der Patient*innen als auch auf der Ebene der Mitarbeitenden. So stellt die Care-Arbeit in einem Großteil der Welt trotz ihrer Notwendigkeit und 'Systemrelevanz' einen Niedriglohnsektor dar, in welchem überwiegend Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten.
Auch hier gilt es, Versorgungslücken zu schließen, denn eine zeitgemäße Betreuung von Menschen mit Krebserkrankungen braucht ein gesundes, kompetentes und ausgeruhtes Personal. Dass es genau hieran mangelt, konnte in den letzten Monaten deutschlandweit flächendeckend beobachtet werden. Hier sind dringend - auch seitens des Gesetzgebers - adäquate Gegenmaßnahmen erforderlich.
Quelle und Kontaktadresse:
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V. (DGHO)
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