VBE veröffentlicht wissenschaftliche Studie zu Lehrkräftebedarf und -angebot / Politik verschleiert Realität
(Berlin) - In Deutschland existiert ein massiver Lehrkräftemangel. Eine vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) bei Prof. i. R. Dr. Klaus Klemm in Auftrag gegebene wissenschaftliche Untersuchung zeigt, wie sich Lehrkräftebedarf und tatsächliches -angebot in Deutschland bis 2030 entwickeln werden.
Der Bundesvorsitzende des VBE, Udo Beckmann, kommentiert anlässlich der heutigen Veröffentlichung: "Der Lehrkräftemangel ist das derzeit größte Problem im Schulbereich und stellt eine massive Bedrohung für Bildungsqualität, -gerechtigkeit und die Zukunft unseres Landes dar. Die größten Herausforderungen, mit denen Schule aktuell konfrontiert ist und künftig konfrontiert sein wird, - Corona-Pandemie, Integration, Inklusion, Digitalisierung, Ganztagsbeschulung, - werden ohne Bereitstellung der erforderlichen personellen Ressourcen nicht zu lösen sein. Realität ist: Lehrkräfte arbeiten schon seit langem und nochmals verstärkt durch die Pandemie an oder oberhalb ihrer Belastungsgrenze. Die notwendige individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen in der Regel nicht mehr leistbar. Unser Bildungssystem ist, insbesondere im Grundschulbereich, massiv unterfinanziert, wie auch die OECD-Berichte zeigen. Bereits seit Jahren notwendige Maßnahmen und Investitionen in die Gewinnung von qualifiziertem Lehrpersonal werden zwar von der Politik öffentlichkeitswirksam angekündigt, die erforderliche Umsetzung aber wird viel zu oft verweigert. Der VBE hat mit Prof. i. R. Dr. Klaus Klemm einen der renommiertesten deutschen Bildungsforscher gewinnen können, um den tatsächlichen Lehrkräftebedarf und das tatsächliche Lehrkräfteangebot bis 2030 zu untersuchen und mit den von der Kultusministerkonferenz (KMK) präsentierten Berechnungen abzugleichen. Die nun vorliegenden Zahlen zeigen glasklar: Es ist viel dramatischer als von der KMK kommuniziert! Die konsequente Umsetzung der vom VBE auf Basis dieser Erkenntnisse skizzierten Forderungen sind alternativlos. Die Politik kann sich nicht mehr aus der Verantwortung stehlen und sagen, sie hätte es nicht besser gewusst."
Lehrkräftebedarf und -angebot werden von der Politik schöngerechnet
Die Kernergebnisse der Studie:
1. Die Vorausberechnung der Schülerzahlen bis zum Schuljahr 2030/31 durch die KMK ist plausibel. Die KMK rechnet mit einem Anstieg der Schülerzahl von 9,2%.
2. Die KMK-Annahmen zum Einstellungsbedarf an Lehrkräften bis 2030 (gesamt: 362.690) sind belastbar, allerdings nur unter der (realitätsfernen) Annahme, dass bereits angekündigte schulpolitische Vorhaben keinen weiteren Lehrkräftebedarf auslösen.
3. Allein die drei schulpolitischen Reformmaßnahmen Ganztagsausbau, Inklusion und die Unterstützung von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen lösen laut vorliegender Untersuchung bis 2030 einen weiteren Lehrkräftebedarf von 74.400 Personen aus. Diesen Bedarf berücksichtigt die KMK in ihren Berechnungen nicht! Auch weitere Maßnahmen wie etwa kleinere Klassenteiler, um qualitativ gute Bildung auch bei zunehmender Heterogenität im Sinne gerechter Bildung in den Klassen zu gewährleisten, fließen in die KMK-Berechnungen nicht ein.
4. Die Modellrechnungen der KMK zum Neuangebot originär ausgebildeter Lehrkräfte bis zum Jahr 2030 (gesamt: 349.310) sind höchst unseriös. Weder sind die Annahmen der KMK durch jüngste Entwicklungen bei den Studierendenzahlen im Lehramtsstudium gedeckt noch durch die Zahl der Schulabsolventinnen und -absolventen in den kommenden Jahren. Selbst ein exorbitant hoher, kurzfristiger und kaum zu realisierender Zuwachs bei den Studierendenzahlen im Lehramt würde ein Plus an vollständig ausgebildeten Lehrkräften erst gegen Ende der Zwanzigerjahre erzielen.
5. Der fachspezifische Lehrkräftemangel wird im MINT-Bereich noch deutlich dramatischer ausfallen als im Durchschnitt aller Unterrichtsfächer. Nur für etwa ein Drittel der bis 2030 zu besetzenden Stellen werden neu ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung stehen.
In der Gesamtbetrachtung heißt das:
Gegenüber den Berechnungen der KMK, die für das Jahr 2025 einen Lehrkräftemangel von 20.000 und für 2030 von 14.000 berechnet, weist die vorliegende Untersuchung für 2025 einen Lehrkräftemangel von 45.000 (+ 225 Prozent gegenüber den Berechnungen der KMK) und für 2030 von 81.000 aus (+ 580 Prozent gegenüber den Berechnungen der KMK) aus. Der durch die drei schulpolitischen Maßnahmen Ganztagsausbau, Inklusion und die Unterstützung von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen zusätzlich entstehende Lehrkräftebedarf ist hierin noch nicht inkludiert.
"Die riesige Mogelpackung, als die die Gesamtberechnung der KMK zum Lehrkräftemangel bezeichnet werden muss, macht fassungslos. Das Ausmaß des Mehrbedarfs und die Schönfärberei, die mit den Berechnungen offenkundig angestellt wurden, kann nur bedeuten: Setzen, sechs! Nachsitzen und neu rechnen. Noch wichtiger aber ist: Die Politik muss umgehend und vollumfänglich die dringend notwendigen Konsequenzen aus den vorliegenden Erkenntnissen ableiten und endlich aufhören sich den tatsächlichen Lehrkräftebedarf schön zu rechnen. Aus dem im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien proklamierten Jahrzehnt der Bildungschancen wird sonst ein Jahrzehnt der Bildungsverliererinnen und -verlierer", so der Bundesvorsitzende des VBE.
Der VBE fordert:
Wir brauchen eine bundesweite Fachkräfteoffensive, jetzt! Diese muss im Sinne des im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankerten Kooperationsgebotes im Schulterschluss zwischen Bund, Ländern und Kommunen umgesetzt und voll ausfinanziert werden.
Planung und Durchführung der Lehramtsausbildung müssen dringend verbessert werden. Es braucht eine Erhöhung der Studienplätze bei gleichzeitiger Verbesserung der Studienbedingungen und der Studienbegleitung, auch um eine Reduzierung der Abbruchquoten zu erzielen.
Die Attraktivität des Berufsbildes muss spürbar gesteigert werden. Es braucht die gleiche Bezahlung unabhängig von Schulform und -stufe und eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Schule.
Die Politik muss sich ehrlich machen, ob und wie ernst sie es meint mit den schulpolitischen Maßnahmen Ganztag, Inklusion, Integration und der Unterstützung von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen. Um diese Maßnahmen bedarfsgerecht umzusetzen, braucht es etwa ein Zwei-Pädagogen-System, was den Lehrkräftebedarf massiv erhöht. Hier muss die Politik endlich Antworten liefern, wie sie dies bewältigen will.
Der Lehrkräftemangel kann und muss durch den Aufbau und die Integration von multiprofessionellen Teams abgemildert werden! Verwaltungsaufgaben müssen minimiert oder durch entsprechende Fachkräfte durchführt werden. Schulpsychologinnen, Schulsozialarbeiter, Schulgesundheits- und IT-Fachkräfte können nicht nur Lehrkräfte entlasten, sondern auch an Schule existente Aufgaben fachgerecht ausführen, für die Lehrkräfte nicht originär ausgebildet sind.
Schulabsolventinnen und Schulabsolventen müssen über eine bundesweite Lehrkräftegewinnungskampagne gezielt angesprochen werden, um den zwingend notwendigen schnellen Zuwachs an Studierenden zu erzielen.
Kurz- und mittelfristig notwendige Maßnahmen zur Abmilderung des Lehrkräftemangels, wie die Integration von Seiteneinsteigenden oder Pensionisten, müssen stetig evaluiert werden. Zudem muss für Seiteneinsteigende eine mindestens sechsmonatige Vorqualifizierung grundsätzlich sichergestellt sein.
Bedarfs- und Angebotsprognosen der politisch Verantwortlichen müssen valide, ehrlich, aktuell und vollumfänglich transparent erfolgen! Es braucht eine methodische Abstimmung zwischen den politisch Verantwortlichen. Zudem benötigt es endlich fortlaufend fächerspezifischer Erhebungen, insbesondere für Mangelfächer, die die Bedarfe von Schulen in Relation zu tatsächlichen und zu realisierenden Hochschulkapazitäten stellen. Die Qualität der Lehre darf dabei nicht ausgehöhlt werden.
Das Ausmaß des Lehrkräftemangels verschleiernde und die Qualität der Bildung schwächende Taktiken, wie etwa die Erhöhung von Klassenteilern oder die Doppelberechnung von Lehrkräften bei Campuszusammenlegungen, müssen aufhören.
Es braucht weitere, kreative und die Bedürfnisse junger Menschen adressierende Maßnahmen, wie etwa wirksame Anreizsysteme, um (neue) Lehrpersonen für den Dienst in abgelegenen ländlichen Regionen zu gewinnen.
Quelle und Kontaktadresse:
Verband Bildung und Erziehung e.V. (VBE)
Lars von Hugo, Pressereferent
Behrenstr. 24, 10117 Berlin
Telefon: (030) 7261966-0, Fax: (030) 7261966-19