Unterfinanzierung von Kinderoperationen: "Die Lage spitzt sich zu"
(Neumünster) - Nach dem Beschluss, dass Mandel- und Mittelohroperationen bei Kindern künftig schlechter von den Krankenkassen bezahlt werden, wächst der Protest von Eltern und Ärzten. "In den letzten Tagen haben uns zahlreiche Brandbriefe von verzweifelten Operateuren und den Angehörigen der kleinen Patienten erreicht. Die Vergütung ist mittlerweile so schlecht, dass die verantwortlichen Ärzte bei jedem Eingriff draufzahlen müssen. Gleichzeitig werden die Operateure von Anfragen für die Eingriffe überrannt", berichtet der Präsident des Deutschen Berufsverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte, Priv.-Doz. Dr. Jan Löhler. Die durchschnittliche Wartezeit auf eine Adenotomie und die Einlage von Paukenröhrchen oder eine Tonsillotomie liege mittlerweile bei vier bis fünf Monaten - Tendenz steigend. Viele Kliniken würden keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Löhler: "Wir brauchen umgehend Hilfe in einer akuten Notlage. Zumindest die Kinder-Eingriffe müssen schnellstens deutlich besser bezahlt werden."
Für den häufigen Standardeingriff der Adenotomie (kindliche Polypen) mit Parazentese und Paukenröhrcheneinlage bei gesetzlich versicherten Kindern zahlen die Krankenkassen seit Januar nur rund 105 Euro. Für eine Lasertonsillotomie liegt der Betrag bei etwa 170 Euro. Dabei handelt es sich nicht etwa um das Honorar für den operierenden Arzt. Von dem Betrag müssen das OP-Material, die Raummiete, die Personalkosten für die OP-Assistenz, die Instrumentenanschaffung und -aufbereitung, die Wartungskosten für die OP-Technik, die Haftpflichtversicherung und die jährliche sicherheitstechnische Kontrolle bezahlt werden. Das verbleibende ärztliche Honorar muss außerdem versteuert werden. Auch vor der Absenkung der Vergütung seien die Eingriffe kaum wirtschaftlich erbringbar gewesen, kritisiert Löhler. In Kombination mit der derzeitigen Explosion aller Kostenblöcke durch Inflation, Energiepreissteigerung und Fachkräftemangel habe sich die Lage jedoch dramatisch zugespitzt. "Man muss es klipp und klar sagen: Wenn nicht sofort etwas geschieht und das ambulante Operieren in diesem Bereich deutlich aufgewertet wird, werden die Kinder nicht mehr die benötigte Versorgung erhalten und von langfristigen Entwicklungsstörungen betroffen sein. Dies wäre ein katastrophales Armutszeugnis für die Wohlstandsgesellschaft, in der wir leben."
Man müsse sich dringend Gedanken machen, welchen Wert medizinische Versorgung und Gesundheitserhaltung in unserem Land noch haben, so Löhler weiter. "Wir alle zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken, locker 1.000 Euro für die Reparatur einer zerkratzten Stoßstange bei unserem Auto. Gleichzeitig wird es offenbar gesellschaftlich akzeptiert, dass eine Operation im Rachen von kleinen Kindern, die mit vielen Risiken durch die Beeinträchtigung von vitalen Funktionen mit Blutungs- und Erstickungsgefahr sowie einer Vollnarkose verbunden ist, nur ein Bruchteil wert sein und unter den eigentlichen Betriebskosten verramscht werden soll." Die Notlage betreffe dabei nicht nur den Bereich des ambulanten Operierens. Die Arztpraxen litten seit Jahren unter der Budgetierung der Vergütung. Zuletzt sei mit der Streichung der sogenannten Neupatientenregelung sogar Geld aus der ambulanten Versorgung entzogen worden. "Das Neid-Gerede der Kassenfunktionäre, wenn es um die Vergütung der ärztlichen Leistungen geht, ist nicht mehr zu ertragen und angesichts der Notsituation vieler Eltern purer Zynismus, der an Arroganz nicht mehr zu übertreffen ist. Auch das kleinteilige Herumgerechne am EBM, dem Vergütungssystem für Vertragsärzte, geht völlig an der Realität vorbei", erklärt Verbandspräsident Löhler.
Angesichts der dringenden Problemlage, sei in Kürze mit bundesweiten Protestmaßnahmen zu rechnen, kündigt der HNO-Arzt an: "Alle Kolleginnen und Kollegen, die uns derzeit wegen des Notstands schreiben, sind zu Protestmaßnahmen bereit. Die möglichen Aktionen reichen von Informationskampagnen, gemeinsam mit den Eltern der Patienten, bis zur temporären oder gänzlichen Einstellung der operativen Tätigkeit." Ziel sei es, das Ausmaß des Problems deutlich zu machen und die Verantwortlichen bei Krankenkassen, Selbstverwaltung und in der Politik wachzurütteln und zum Handeln zu bewegen.
Zum Hintergrund: Im Dezember 2022 haben der GKV-Spitzenverband und die Kassenärztliche Bundesvereinigung eine Teilreform des ambulanten Operierens beschlossen. Mit dem Beschluss wurden Eingriffe der Kategorien N1 bis N3 in der Vergütung abgesenkt. Komplizierte Operationen der Kategorien N4 bis N7 werden künftig höher bewertet, ohne dass insgesamt mehr Geld in das System fließt. Die Verschiebung der Vergütung geht auf die von den Krankenkassen geforderte sogenannte Punktsummenneutralität zurück. Damit sollen die Gesamtausgaben bei Neubewertungen ambulanter Leistungen am Ende gleichbleiben. Ein adäquater Ausgleich der stark steigenden Kosten durch Inflation, Energiepreissteigerung und Fachkräftemangel wird den Arztpraxen von den Krankenkassen verwehrt. Die Krankenhäuser hatten dagegen zuletzt Milliardenhilfen für die gleichen Kostensteigerungen zugesprochen bekommen.
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