Pressemitteilung | Hans-Böckler-Stiftung

Staat hat "kalte Progression" zwischen 2021 und 2024 fĂŒr die meisten Arbeitnehmer*innen-Haushalte ausgeglichen / Kaufkraft bei vielen Haushalten wieder auf Niveau von 2021

(DĂŒsseldorf) - Die aktuelle Bundesregierung hat seit Ihrem Amtsantritt 2021 die so genannte "kalte Progression" fĂŒr die meisten Haushalte vollstĂ€ndig ausgeglichen und fĂŒr viele Haushalte sogar ĂŒberkompensiert. Wenn man sowohl Steuern als auch Sozialabgaben und zudem die Zahlungen aus dem Kindergeld berĂŒcksichtigt, haben die meisten Arbeitnehmer*innenhaushalte in Deutschland heute mindestens so viel Netto vom Brutto wie 2021, einige sogar deutlich mehr. Ausnahme sind dabei Familien mit Kindern im mittleren Einkommensbereich, bei denen eine unterproportionale Erhöhung des Kindergeldes und erhöhte Sozialabgaben das Nettogehalt so stark schmĂ€lern, dass ihnen von jedem verdienten Euro netto weniger bleibt als 2021. Trotz der unter dem Strich unterstĂŒtzenden Politik hat aber die Kaufkraft der meisten deutschen Arbeitnehmer*innenhaushalte durch die hohe Inflation der letzten Jahre kaum Fortschritte gemacht. Betrachtet man nicht nur die VerĂ€nderung bei Steuern und Abgaben, sondern auch die haushaltsspezifische Inflation und die Lohnsteigerungen, so bleibt nur wenigen Haushalten spĂŒrbar mehr Kaufkraft als 2021. Das ergibt eine neue Studie des Instituts fĂŒr Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.*

Unter dem Begriff "kalte Progression" versteht man, wenn BeschĂ€ftigte durch Lohnerhöhungen, die einzig die Teuerung ausgleichen, höhere SteuersĂ€tze zahlen mĂŒssen. Um dies zu vermeiden, hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren wiederholt den Steuertarif angepasst. Wie die Untersuchung von Prof. Dr. Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des IMK, sowie seinen beiden Kolleginnen Dr. Katja Rietzler und Dr. Silke Tober, zeigt, spielen die SozialversicherungsbeitrĂ€ge eine zentrale Rolle. FĂŒr die Frage nach der "kalten Progression" wird in der Studie daher ein weit gefasster Begriff zugrunde gelegt, der Entwicklungen bei der Einkommensbesteuerung und bei der Sozialversicherung berĂŒcksichtigt.

So ist die Steuer- und Abgabenbelastung fĂŒr praktisch alle Singlehaushalte und Paarhaushalte ohne Kinder entweder - bis auf kaum messbare VerĂ€nderungen im Promillebereich - unverĂ€ndert geblieben oder gefallen, und damit der Anteil des Nettoverdienstes an den Bruttoeinkommen gestiegen (siehe auch Abbildung 1 & 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Deutlich entlastet wurden dabei vor allem Single-Haushalte mit Bruttoeinkommen von unter 20.000 Euro und mehr als etwa 50.000 Euro pro Jahr (bei Paaren ohne Kinder mit jeweils den doppelten Werten). Familien mit Kindern im mittleren Einkommensbereich wurden in der Summe durch die VerĂ€nderungen bei Steuern, Abgaben und Kindergeld allerdings etwas schlechter gestellt, zumindest, wenn man alle Zahlungen einschließlich des KinderbonusÂŽ 2021 berĂŒcksichtigt (Abbildung 3).

- Entlastung fĂŒr Familien mit mittleren Einkommen funktioniert am besten ĂŒber höheres Kindergeld -

"Eine Notwendigkeit fĂŒr eine allgemeine Senkung der Einkommensteuer etwa durch eine Verschiebung des Steuertarifs ist deshalb nach dieser Analyse nicht gegeben und sollte auch gerade vor dem Hintergrund der engen FinanzierungsspielrĂ€ume unter der Schuldenbremse sehr genau ĂŒberlegt werden", schreiben die Forschenden. Wenn man zielgenau Familien mit niedrigeren bis mittleren Einkommen entlasten wolle, sei dafĂŒr am besten eine stĂ€rkere Erhöhung des Kindergeldes geeignet.

Um zu ermitteln, wie sich die Kaufkraft von Arbeitnehmer*innen in den stark von hoher Inflation geprĂ€gten Jahren seit 2021 verĂ€ndert hat, ist es nach Analyse der Forschenden allerdings nicht ausreichend, nur Steuern und Abgaben zu betrachten. "Das volle Bild ergibt sich erst, wenn man Steuern, Abgaben, Löhne und die fĂŒr die einzelnen Haushalte relevanten Preise zusammen analysiert", erlĂ€utert IMK-Direktor Dullien. Hier zeige sich, dass viele Arbeitnehmer*innen-Haushalte in Deutschland bei der Kaufkraft trotz des Ausgleichs der "kalten Progression" seit 2021 kaum Fortschritte gemacht haben. Grund sei hier, dass die Löhne in den vergangenen Jahren trotz vergleichsweise hoher nominaler Zuwachsraten mit den Preisen in vielen FĂ€llen nicht vollstĂ€ndig mitgehalten haben.

Dies gilt insbesondere fĂŒr Haushalte mit Kindern, die wegen des hohen Anteils an Ausgaben fĂŒr Lebensmittel und Energie an ihren Warenkörben eine besonders hohe Teuerung erlebt haben. Alleinerziehende und Paarfamilien mit Kindern und mittleren Einkommen stehen so bei ihrer Gesamtkaufkraft etwas schlechter da als vor drei Jahren und verzeichnen gegenĂŒber 2021 "KaufkraftlĂŒcken" von bis zu 492 Euro. Deutlich besser sieht es fĂŒr einen Teil der Alleinstehenden aus, vor allem fĂŒr Singles mit hohen Einkommen und etwas abgeschwĂ€cht auch fĂŒr Personen, die im Niedriglohnbereich arbeiten.

GestĂ€rkt wird aktuell gegenĂŒber 2021 auch die Kaufkraft von Arbeitnehmer*innen, die eine steuer- und abgabenfreie InflationsausgleichsprĂ€mie bekommen. Mit PrĂ€mie können auch Alleinstehende mit mittleren Einkommen einen Kaufkraftzuwachs um mehrere hundert Euro verbuchen, wĂ€hrend ohne PrĂ€mie in dieser Gruppe die Kaufkraft praktisch stagniert (fĂŒr genaue Zahlen siehe auch die Tabelle in der pdf-Version dieser PM). Da es sich bei den PrĂ€mien um Einmalzahlungen handelt, fĂ€llt dieser positive Effekt 2025 allerdings weg. "Kaufkrafteinbußen können nur vermieden werden, wenn dies in den TarifabschlĂŒssen berĂŒcksichtigt wird", analysiert IMK-Direktor Dullien.

"Der Staat hat bei der Einkommensteuer seine Hausaufgaben gemacht, um eine Zusatzbelastung durch die hohe Inflation auszugleichen", so Dullien weiter. Auch die Tarifparteien hĂ€tten deutlich dazu beigetragen, dass die durch die Energie- und Nahrungsmittelschocks entstandenen KaufkraftlĂŒcken bereits in diesem Jahr teils geschlossen, teils zumindest deutlich verkleinert wurden. Das sei angesichts der stagnativen Entwicklung ein deutlicher Erfolg. "Mit dem Abklingen der Schocks sollten absehbar auch wieder Reallohnsteigerungen möglich sein", so Dullien. Von 2009 bis 2019 etwa legten die realen Stundenlöhne im Jahresschnitt um fast 1,5 Prozent zu - im deutlichen Kontrast zu der Stagnation von 2021 bis 2024.

Methodik und detaillierte Ergebnisse der Studie:

In ihrer Untersuchung berechnen Dullien, Rietzler und Tober zunĂ€chst, welcher Anteil vom Bruttolohn Singles, Paaren und Familien mit verschiedenen Einkommen netto bleibt, wenn ihre Löhne von 2021 bis 2024 genau mit der Rate der allgemeinen Inflation gestiegen wĂ€ren. Einbezogen werden dabei alle Steuern und Sozialabgaben, einschließlich Kindergeld- und Kinderbonuszahlungen. Anhand dieser Berechnungen identifizieren die Forschenden, in welchen FĂ€llen die "kalte Progression" nach BerĂŒcksichtigung der Steuer- und AbgabenrechtsĂ€nderungen noch Mehrbelastungen bedeutet. BĂŒrgergeld und Wohngeld werden nicht berĂŒcksichtigt.

DarĂŒber hinaus berechnen sie fĂŒr verschiedene Haushaltstypen in unterschiedlichen Einkommensklassen, wie sich Brutto- und Nettoeinkommen und die Kaufkraft der verfĂŒgbaren Einkommen zwischen 2021 und 2024 entwickelt haben. Die Haushalte unterscheiden sich nach Personenzahl, Zahl der ErwerbstĂ€tigen sowie Einkommen und reichen von einer alleinlebenden Person mit Niedrigverdienst bis zur vierköpfigen Familie mit Doppelverdienst und sehr hohem Einkommen. In diese Berechnungen gehen die gesamtwirtschaftlichen Lohnsteigerungen ein und es wird jeweils die haushaltsspezifische Inflationsrate zugrunde gelegt, die sich etwa deshalb unterscheidet, weil Familien mit niedrigeren Einkommen einen grĂ¶ĂŸeren Anteil ihres Einkommens fĂŒr Nahrungsmittel ausgeben als hochverdienende Singles. Anhand von drei Modellrechnungen zeigen die Forschenden zudem beispielhaft, wie sich InflationsausgleichsprĂ€mien in unterschiedlicher Höhe fĂŒr BeschĂ€ftigte aus der Einkommens-Mittelschicht auswirken. Insgesamt wurden damit 16 beispielhafte Haushalts- und Einkommenskonstellationen untersucht.

Datenbasis fĂŒr die Studie ist die reprĂ€sentative Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die die Forschenden unter anderem mit Daten zum Steuertarif, zur Abgabenentwicklung, zur haushaltsspezifischen Wirkung der verschiedenen Entlastungsprogramme und zur gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung fortschreiben. Bei der Frage, ob eine "kalte Progression" ausgeglichen wurde oder nicht, verfolgen die Wissenschaftler*innen also ein umfassendes Einkommenskonzept, statt allein die Einkommensteuer zu betrachten. Differenziertere Aussagen zu BeschĂ€ftigten aus unterschiedlichen Branchen sind auf dieser Datenbasis nicht möglich.

Über mehrere Analyseschritte kommen Dullien, Rietzler und Tober zu folgenden Ergebnissen:

"Kalte Progression" meist ĂŒberkompensiert. Die Mehrheit der untersuchten Haushalte haben 2024 bei ihren Einkommen mindestens so viel Netto vom Brutto ĂŒbrig wie vor dem Inflationsschub 2021, die "kalte Progression" wurde also mehr als ausgeglichen. Überdurchschnittlich groß ist der Effekt bei Singles mit sehr hohen Einkommen und bildet sich erst oberhalb der Grenze, ab der die Reichensteuer greift, wieder zurĂŒck. Grund: Sie haben stark von Entlastungen bei der Einkommensteuer profitiert und zahlen die angehobenen BeitragssĂ€tze in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung nur auf einen Teil ihres Einkommens, weil das Gesamteinkommen ĂŒber der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Leicht zusĂ€tzlich belastet sind dagegen Doppelverdiener-Paare mit Kindern mit der Ausnahme von Familien mit hohen Einkommen.

Trotz staatlicher Entlastung bleiben in einigen FĂ€llen Kaufkraftverluste. Die Betrachtung der VerĂ€nderung der Kaufkraft der Haushalte fĂ€llt nicht ganz so positiv aus wie die Betrachtung bei der "kalten Progression". Nicht in allen FĂ€llen konnten die Bruttolohnerhöhungen mit der haushaltsspezifischen Teuerung mithalten. In einigen dieser FĂ€lle kam es so trotz staatlicher Entlastung zu Kaufkraftverlusten. Gleichzeitig haben einige Familien 2024 eine höhere Steuer- und Abgabenlast und deshalb per Saldo Kaufkraft verloren. Leicht im Minus liegen Doppelverdiener-Paare ohne Kinder mit mittleren Einkommen (-30 Euro; siehe Tabelle im Anhang). Alleinerziehende und Paarfamilien mit Kindern und mittleren Einkommen bĂŒĂŸen stĂ€rker an Kaufkraft ein. Bei ihnen hat sich auch das VerhĂ€ltnis von Brutto zum Netto etwas verschlechtert. Das liegt daran, dass sich bei diesen Familien die Entlastungen bei der Einkommensteuer relativ wenig auswirken, die Erhöhung der BeitragssĂ€tze in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung hingegen relativ stark zu Buche schlĂ€gt, wĂ€hrend die Erhöhung des Kindergeldes im Untersuchungszeitraum sehr deutlich unterhalb der Inflation lag.

DemgegenĂŒber stehen auch Haushalte mit deutlichen Kaufkraftgewinnen. Familien mit höherem Einkommen etwa profitierten tendenziell vom jĂ€hrlich angepassten Kinderfreibetrag, der seit 2021 um 11 Prozent angehoben wurde und damit deutlich stĂ€rker als das Kindergeld. Entscheidend ist aber auch hier, dass sich die erhöhten BeitragssĂ€tze nur bis zu den unterproportional angehobenen Beitragsbemessungsgrenzen auswirken und Haushalte mit hohen Einkommen davon profitieren, dass fĂŒr ihr zusĂ€tzliches Einkommen keine zusĂ€tzlichen BeitrĂ€ge abzufĂŒhren sind. Somit hat eine vierköpfige Familie mit zwei ErwerbstĂ€tigen und einem Jahresbrutto von knapp 155.000 Euro 2024 992 Euro mehr Kaufkraft als 2021. Singles mit Top-Einkommen von knapp 153.000 Euro konnten ihre Kaufkraft gegenĂŒber 2021 um 2109 Euro steigern. Hier wirkt sich zusĂ€tzlich die deutlich unterdurchschnittliche haushaltsspezifische Inflationsrate aus. Deutliche Entlastungen und Zugewinne gibt es auch im unteren Einkommensbereich: Wer Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, hat 2024 1535 Euro mehr Kaufkraft zur VerfĂŒgung als 2021. Bei den meisten anderen Haushaltstypen ist der Kaufkrafteffekt ebenfalls positiv, aber weitaus geringer, sofern ihnen nicht der - allerdings zeitlich beschrĂ€nkte - Effekt der InflationsausgleichsprĂ€mien zugute kommt.

Unter dem Strich attestieren Dullien, Rietzler und Tober, dass "die allermeisten Haushalte in Deutschland seit 2021 auch nach BerĂŒcksichtigung von Lohnerhöhungen zum Inflationsausgleich bei den Steuern und Abgaben in der Summe entlastet oder zumindest nicht zusĂ€tzlich belastet worden sind." Der Staat habe also keineswegs von der "kalten Progression" in Zeiten hoher Inflation profitiert. Dass dabei Haushalte mit sehr hohen Einkommen vergleichsweise stark profitieren, wĂ€hrend Mittelschichts-Familien Einbußen erleiden, bewerten die Forschenden allerdings als "Schieflage". Wollte man den Nachteil fĂŒr Familien ausgleichen, sei es am besten, ĂŒber stĂ€rkere Erhöhungen beim Kindergeld nachzudenken. Weitere Änderungen des Einkommensteuertarifs, wie sie das Bundesfinanzministerium favorisiert, seien hingegen wenig zielgenau.

Quelle und Kontaktadresse:
Hans-Böckler-Stiftung Rainer Jung, Leiter, Pressestelle Hans-Böckler-Str. 39, 40476 DĂŒsseldorf Telefon: (0211) 77780, Fax: (0211) 7778120

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