Sozialbericht 2002 der AWO: Die Einwanderungsgesellschaft
(Berlin/Bonn) - Ein Ende der unsäglichen Blockade gegen ein modernes Zuwanderungsgesetz hat der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Manfred Ragati von der Union bei der Vorstellung des AWO-Sozialberichts 2002 zur Zuwanderungs- und Integrationspolitik* am 20. März in Berlin gefordert.
"Durch Nichtstun in Regierungsverantwortung, Fundamentalblockade mit Forderungen aus der migrationspolitischen Steinzeit in der Opposition und populistische Angstkampagnen in Wahlkämpfen ist dem gesellschaftlichen Frieden in Deutschland schon genug geschadet worden", erklärte Ragati. Die Sozialbilanz der AWO sei eine Dokumentation politischen und gesellschaftlichen Versagens und zeichnet eine integrationspolitische Wüstenei. "Wir haben es hier mit dem größten Defizit der deutschen Innenpolitik seit Bestehen der Bundesrepublik zu tun", erklärte der AWO-Bundesvorsitzende.
"Deutschland ist ein Einwanderungsland", stellt der AWO-Sozialbericht eindeutig fest. "Jede andere Behauptung geht an der Realität komplett vorbei", so Ragati. Die Analyse der AWO ist jedoch ernüchternd: In Deutschland wird Migration verwaltet und nicht gestaltet, Kinder und Jugendliche aus ausländischen Familien haben niedrigere Schulabschlüsse, bleiben häufiger ohne Berufsausbildungsabschluss, ausländische Familien leben in schlechteren Wohnverhältnissen, zahlen aber höhere Mieten, die Säuglingssterblichkeit liegt um 29 Prozent höher als die der deutschen Vergleichsgruppe, die gesundheitliche Versorgung ausländischer Familien ist gekennzeichnet durch Missverständnisse, Fehl- und Endlosdiagnostik.
"Das ist Realität in Deutschland", so Ragati. Und dennoch verharre die konservative Blockade im Traum eines heilen, migrationsfreien Europas. "Die 137 Änderungsvorschläge des Zuwanderungsgesetzes der Unionsländer im Bundesrat atmen den alten konservativen Geist der 70-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, den Geist von Abwehr, Ausgrenzung und Ausweisung" erklärte der AWO-Bundesvorsitzende. Damit erhebe die Union die Fehler der Vergangenheit zum Zukunftsprogramm.
Nach Darstellung der AWO wird Migration in der Bundesrepublik nicht gestaltet, sondern in einem für alle Beteiligten Einwanderer, Migrationsdienste, Verwaltungen - auf Ausgrenzung ausgerichteten Übermaß verwaltet. "Anders als in anderen Ländern schnüren wir keine Willkommenspakete, sondern konfrontieren Zuwanderer mit Katalogen der Abschreckung", sagte Ragati.
In vielen gesellschaftlichen Lebensbereichen könne unter diesen Voraussetzungen "Einbürgerung" nicht statt finden, sie sei offensichtlich auch gar nicht gewollt.
Es gelingt dem deutschen Bildungssystem nicht, hier geborene Kinder und Jugendliche ausländischer Herkunft ihrem Alter gemäß zu bilden. Es mangelt nicht den Kindern an Voraussetzungen, sondern das Bildungssystem ist selektiv, lehr- und lernunfähig (vgl. PISA).
Ausländische Jugendliche nehmen weniger an der dualen beruflichen Ausbildung teil als einheimische Jugendliche (33 Prozent/ 66 Prozent) und bleiben viermal häufiger ohne Berufsabschluss (33 Prozent/ 8 Prozent);
Die Benachteiligungen im Bildungssystem haben nachhaltige Auswirkungen am Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit hat sich bei den Migrantengruppen verfünffacht und ist langfristiger;
Vier Fünftel der ausländischen Familien leben in westdeutschen Großstädten mit über 100.000 Einwohnern. Sie leben in schlechteren Wohnverhältnissen, zahlen aber höhere Mieten als ihre deutschen Nachbarn (11,51 DM/qm zu 10,69 DM/qm; 1998).
Eine interkulturelle Öffnung in der gesundheitlichen Vorsorge und Behandlung gibt es nur in einzelnen wenigen Modellversuchen. Die Säuglingssterblichkeit etwa ist um 29 Prozent höher als bei deutschen Babys. Versorgungsmängel, Fehldiagnosen, Endlosdiagnostik, falsche Medikamentierung aus Missverständnissen und Hilflosigkeit haben nachhaltige Folgen und sind zudem kostenintensiv;
Eine halbe Million Bürger ausländischer Herkunft sind älter als 60 Jahre. Bereits in wenigen Jahren (2010) wird eine Zunahme auf 1,5 Mio. erwartet. Das Pflegebedürftigkeitsrisiko ist bei Migranten besonders hoch, aufgrund häufiger Arbeitsunfall- und Berufskrankheiten in ihrer Lebensbiografie. Die Altenhilfe muss sich auf diese spezifischen Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe einstellen.
Der Sozialbericht der AWO ist eine komplexe Darstellung der Lebensverhältnisse der Einwanderer, und er stellt Forderungen an ein Jahrzehnt der Integration, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Viele öffentliche Dienste und Einrichtungen sind monokulturell ausgerichtet und erreichen die Migrantenbevölkerung nur in geringem Maße. Das gilt für die Kinder- und Jugendhilfe genauso wie für die Altenhilfe, die Sozialberatung und das Gesundheitswesen.
"Mit dem Sozialbericht 2002 leisten wir deshalb auch ein Stück Sensibilisierung für einen Prozess der pragmatischen Einbürgerung", sagte Ragati. Aufgrund einer Selbstverpflichtung des Verbandes habe die AWO damit begonnen, ihre sozialen Dienstleistungen interkulturell zu öffnen und dies zu einem Bestandteil ihres Qualitätsmanagements zu machen.
* Sozialbericht 2002: Ein Einwanderungsland, das keines sein will, Ausländerpolitik und Integration;
Sozialbericht 2001: Ehrenamt im Wandel;
Sozialbericht 2000: Gute Kindheit - Schlechte Kindheit,
Armutsstudie;
Sozialbericht 1999: Zur Lebenslage älterer Menschen und Zukunft
der Sozialen Dienste.
Quelle und Kontaktadresse:
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (AWO)
Oppelner Str. 130, 53119 Bonn
Telefon: 0228/66850, Telefax: 0228/66852 09