Ostdeutsche erwarten mehr soziale Gerechtigkeit durch Reformen
(Berlin) - "Eine große Mehrheit der Ostdeutschen ist für Reformen des Sozialstaates, hat aber eine kritische Haltung zu den bisherigen Reformschritten." Das zählt zu den Ergebnissen der Studie "Sozialreform und soziale Sicherungsziele - Bewertungen und Vorstellungen der Bürger der neuen Bundesländer im Jahre 2008", die im Auftrag des Sozial- und Wohlfahrtsverbandes Volkssolidarität vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg (SFZ) erarbeitet wurde.
Verbandspräsident Prof. Dr. Gunnar Winkler stellte die Studie auf einer Pressekonferenz am 26. November in Berlin vor. Das Material basiert auf einer Befragung von fast 2.900 Bürgern in den neuen Bundesländern zu ihren Positionen, Erwartungen und erreichten Veränderungen in Bezug auf die Sozialreformen.
Winkler sagte weiter: "Mehr als die Hälfte der Befragten sehen sich als Verlierer der bisherigen Sozialreformen. Als Bedingung für einen starken Sozialstaat wird sowohl die Verantwortung des Staates eingefordert als auch, dass die solidarischen Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme gestärkt werden. Die Studie zeigt aber auch, dass infolge der Agenda 2010 das Interesse an Politik sowie das Vertrauen in diese deutlich gesunken sind.
Gleichzeitig wird deutlich, dass die über die Medien geführte Debatte um vermeintlichen Missbrauch von Sozialleistungen ihre Spuren im Meinungsbild der Bevölkerung hinterlässt."
Nur vier Prozent der Bürger der neuen Bundesländer sehen sich der Studie zufolge als Gewinner der Sozialreformen, aber 57 Prozent als Verlierer.
"Für die Bürger sind die wirklichen Gewinner vor allem die Banken und Versicherungen, der Staat sowie Unternehmer. Als Verlierer der Sozialreformen sehen sie insbesondere die Arbeitnehmer, Arbeitslose, Senioren sowie Kinder und Jugendliche." Damit gehe eine zunehmende soziale Verunsicherung einher, betonte der Verbandspräsident.
"Den Bürgern der neuen Länder geht es bei notwendigen Sozialreformen nicht vordergründig um mehr `Leistungen´, sondern um höhere Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Der Anspruch an Sozialreformen ist vorrangig mit Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit in den Bereichen Bildung, Gesundheit und zwischen den Geschlechtern verbunden." Dann folgten erst Maßnahmen zur Einkommenssicherung im Erwerbsleben und im Alter sowie Gewährleistung von Vollbeschäftigung. "Unter den gegenwärtigen Bedingungen sehen die Bürger in einer Verbreiterung der solidarischen Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme den Hauptweg notwendiger Reformen", stellte Winkler fest.
Die Studie zeige, dass infolge der Agenda 2010 das Interesse an Politik in Ostdeutschland seit 2005 deutlich geringer geworden ist. "Während 2005 noch 49 Prozent der Bürger starkes Interesse bekundeten, sind es 2008 nur noch 37 Prozent", so der Verbandspräsident. Zugleich hätten die anhaltenden und medial beförderten Diskussionen um Privatisierung und Individualisierung des Sozialen sowie des individuellen Missbrauchs von Sozialleistungen ihre Spuren im Meinungsbild der Bürger hinterlassen. "Das Problem ist, dass es Wirkung zeigt und die öffentliche Meinung gezielt beeinflusst", gab Winkler Studienergebnisse wieder. "Rund 60 Prozent aller Bürger unterstützen die Auffassung, dass der Sozialstaat auch wegen des Missbrauches von Sozialleistungen durch einzelne Bürger reformiert werden muss. Nur 17 Prozent wenden sich dagegen. Während im Allgemeinen von einer Missbrauchsquote z.B. bei Hartz IV von 0,5 Prozent ausgegangen wird, stehen die Annahmen der Bürger dem fundamental entgegen."
Winkler zufolge ergaben die Befragungen auch, dass das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme in hohem Maße verloren gegangen ist. "Nur noch zehn Prozent der Bürger unterstützen `vertrauensvoll´ das gegenwärtige System, über ein Drittel hat nur noch wenig bzw. kein Vertrauen mehr." Ursache sei neben dem bereits erfolgten Abbau von Sozialleistungen eine permanente Diskussion um weitere Kürzungen in allen Bereichen der Sozialpolitik. "Es vergeht kein Tag, an dem nicht extremste Vorschläge unterbreitet werden, so dass der Bürger am Ende jeden Leistungseingriff mit `es hätte schlimmer kommen können´ akzeptiert." Die Bürger erwarteten auch in den nächsten Jahren zunehmende finanzielle Belastungen im Sozialbereich und eine Abnahme der dafür gewährten Leistungen.
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