Neues Rechtsgutachten: Arbeitsrechtliche Privilegien fĂŒr Kirchen nicht mehr haltbar - Grundrechte von BeschĂ€ftigten gestĂ€rkt
(DĂŒssedldorf) - Die Kirchen konnten in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten lange auf weitgehende Sonderregelungen pochen. TatsĂ€chlich ist die Ungleichbehandlung von BeschĂ€ftigten aber nur in AusnahmefĂ€llen gerechtfertigt. Das zeigt ein neues Rechtsgutachten, das das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat.*
Die Vorstellung, dass sich der Arbeitgeber in ihr Privatleben einmischen oder ihnen eine bestimmte Weltanschauung vorschreiben könnte, dĂŒrfte den meisten BeschĂ€ftigten befremdlich erscheinen. Kirchliche BeschĂ€ftigte sind daran gewöhnt: Etliche von ihnen haben in der Vergangenheit ihre Stelle verloren, weil sie sich beispielsweise fĂŒr eine zweite Ehe oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft entschieden haben. Deutsche Arbeitsgerichte haben dem Gebaren der Kirchen regelmĂ€Ăig ihren Segen erteilt - mit Verweis auf deren Selbstbestimmungsrecht. Wie weit dieses Recht reicht, hat der ehemalige Arbeitsrichter Peter Stein in einem Gutachten fĂŒr das HSI erörtert. Die Grenzen sind demnach enger gesteckt, als es die Rechtsprechung hierzulande ĂŒber Jahrzehnte vorgegeben hat: Das kirchliche "Nebenarbeitsrecht" sei spĂ€testens nach mehreren Urteilen des EuropĂ€ischen Gerichtshofs (EuGH) nicht mehr haltbar, schreibt Stein, der an einem der Verfahren vor dem EuGH als Anwalt beteiligt war. Vorgaben, die in die private LebensfĂŒhrung eingreifen und auf eine Ungleichbehandlung von BeschĂ€ftigten hinauslaufen, seien allenfalls bei "verkĂŒndigungsnahen" TĂ€tigkeiten rechtmĂ€Ăig. Ob das im Einzelfall zutrifft, hĂ€tten nicht die Kirchen selbst, sondern staatliche Gerichte zu entscheiden.
Die Stellung der Kirchen im Staat sei im Grundgesetz in Artikeln geregelt, die aus der Weimarer Reichsverfassung ĂŒbernommen wurden, erklĂ€rt der Jurist. Darin finde sich unter anderem ein "Recht der Glaubensgemeinschaften auf Selbstverwaltung innerhalb der Schranken des fĂŒr alle geltenden Rechts". Die Verfassung habe in erster Linie klarstellen wollen, dass fĂŒr die Kirchen die gleichen Rechte wie fĂŒr alle gelten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe den Artikel dagegen zu einer Schutznorm der Kirchen gegen den Staat umgedeutet und das kirchliche Selbstverwaltungsrecht hin zu einem Selbstbestimmungsrecht extrem ausgeweitet, insbesondere im Arbeitsrecht. Um Streitigkeiten zu entscheiden, bei denen es um VerstöĂe von BeschĂ€ftigten gegen "LoyalitĂ€tspflichten" geht, mĂŒssen die Arbeitsgerichte laut BVerfG das SelbstverstĂ€ndnis der Kirchen als MaĂstab zugrunde legen.
Stein hĂ€lt das fĂŒr wenig ĂŒberzeugend: Ein bloĂer Nachvollzug des SelbstverstĂ€ndnisses von Glaubensgemeinschaften habe mit eigenstĂ€ndiger Kontrolle durch die Rechtspflege nichts zu tun. Mit der Maxime "Plausibel ist, was die Kirche fĂŒr plausibel hĂ€lt" hĂ€tten die Karlsruher Richter einen "kontrollimmunen Interpretationsprimat" der Kirchen installiert und "die christliche Wertemoral in exzessivem Umfang gegenĂŒber dem staatlichen Arbeitsrecht" privilegiert. VernachlĂ€ssigt hĂ€tten sie dagegen die Grundrechte der BeschĂ€ftigten, gegen die das Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften abgewogen werden mĂŒsse.
Dass die "Ăberbetonung kirchlicher Sichtweisen" ein Irrweg ist, hat dem Gutachten zufolge 2018 auch der EuGH bestĂ€tigt. Die EU-Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie enthalte zwar Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot, die sich durch berufliche Anforderungen rechtfertigen lassen und auf die sich Kirchen berufen können, wenn sie zum Beispiel die Konfession als Einstellungskriterium verwenden. Allerdings seien diese Ausnahmen eng auszulegen: Der Aufgabenbereich, der ohne eine bestimmte Religion nicht ausgeĂŒbt werden kann, mĂŒsse "quantitativ einen erheblichen Teil des gesamten Aufgabenfeldes ausmachen". Zudem mĂŒsse die Diskriminierung "geeignet" und sachlich notwendig sein.
Bei verkĂŒndigungsnahen TĂ€tigkeiten, beispielsweise als Pfarrer, Rabbi oder Imam, sei regelmĂ€Ăig davon auszugehen, dass das der Fall ist. Auch bei Religionslehrerinnen erscheine das plausibel. Nicht dagegen, wenn es um Sportlehrer oder Ărztinnen an konfessionellen Schulen oder KrankenhĂ€usern geht. In solchen FĂ€llen sei das legitime Interesse der Kirchen durch "loyales und aufrichtiges Verhalten" gewahrt. Nötig sei RĂŒcksichtnahme auf die Werte des Arbeitgebers, nicht Ăbernahme. Die Ungleichbehandlung dĂŒrfe sich zudem nur auf die Religion oder Weltanschauung beziehen, nicht dagegen auf die sexuelle Orientierung. Die Beweislast dafĂŒr, dass im Einzelfall Gefahr fĂŒr ihr Ethos oder ihr Recht auf Autonomie besteht, liege vor Gericht bei den Kirchen.
Um fĂŒr Klarstellungen im deutschen Recht zu sorgen und es in Einklang mit Unionsrecht zu bringen, empfiehlt der Autor Anpassungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Ob eine gerechtfertigte berufliche Anforderung vorliegt, dĂŒrfe sich nicht nach dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht bestimmen, sondern allein nach der Art der TĂ€tigkeit. Zudem sollte der Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes auf kirchliche Einrichtungen ausgedehnt werden, wird doch ĂŒber die kirchliche Mitarbeitervertretung neben den Interessen der BeschĂ€ftigten zugleich auch ein kirchliches Amt vertreten. Das Recht zu streiken steht kirchlichen BeschĂ€ftigten nach Steins EinschĂ€tzung bereits jetzt zu, weil ohne dieses Recht keine Lohnverhandlungen auf Augenhöhe möglich sind.
*Peter Stein: Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Arbeitsrecht und seine Grenzen, HSI-Schriftenreihe Band 47, Januar 2023. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008510
Quelle und Kontaktadresse:
Hans-Böckler-Stiftung
Rainer Jung, Leiter, Pressestelle
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