Neuer WSI-Bericht / Deutsche Einheit bei der Gleichstellung?
(Düsseldorf) - Frauen in West- wie in Ostdeutschland haben in Puncto Bildung, Erwerbstätigkeit und soziale Absicherung in den vergangenen Jahren gegenüber Männern aufholen können. Trotzdem gibt es bei der Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt weiterhin erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West. Bei 15 von 22 wichtigen Indikatoren zu Themen wie Erwerbsbeteiligung, Arbeitszeit, Bezahlung, Führungspositionen oder Absicherung im Alter sind die Abstände zwischen Männern und Frauen im Osten spürbar kleiner als im Westen - allerdings beim Einkommen auf insgesamt niedrigerem Niveau. Und auch wenn die Gleichstellung in beiden Landesteilen vielfach vorangekommen ist, bleibt das Tempo oft niedrig und die durchschnittliche berufliche, wirtschaftliche und soziale Situation von Frauen weiterhin meist schlechter als die von Männern. Den aktuellen Stand und sinnvolle Strategien für Fortschritte beleuchtet anhand der neusten verfügbaren Daten eine Studie, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung heute im Vorfeld des 3. Oktober vorlegt.*
"Die Ergebnisse unserer Studie belegen weiterhin klar erkennbare Geschlechterungleichheiten zu Ungunsten von Frauen. Meist sind die etwas ausgeprägter in Westdeutschland und etwas abgeschwächter in Ostdeutschland", sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. "Unter dem Strich ist der Osten bei einigen wichtigen Aspekten der Gleichstellung also etwas fortschrittlicher. Dass erwerbstätige Frauen im Osten etwas weniger Rückstand auf die Männer haben, ist nach 33 Jahren deutscher Einheit allerdings nicht immer eine gute Nachricht, vor allem bei den Einkommen nicht", betont Kohlrausch. So erhalten 12 Prozent der weiblichen Vollzeitbeschäftigten im Osten nur maximal 2000 Euro brutto pro Monat. Der Geschlechterunterschied ist dabei zwar kleiner als im Westen, allerdings auch deshalb, weil männliche Erwerbstätige im Osten ebenfalls häufiger als im Westen nur ein Niedrigeinkommen erzielen.
- Mehr Frauen in West und Ost erwerbstätig - aber Zunahme vor allem bei der Teilzeit -
Die Auswertung, die WSI-Forscherin Dr. Yvonne Lott und Expert*innen des Berliner SowiTra-Instituts verfasst haben, zeigt unter anderem: Bei der formalen beruflichen Qualifikation haben Frauen im Westen weitgehend mit den Männern gleichgezogen, in Ostdeutschland liegen sie sogar leicht vorne. Bei der Erwerbsbeteiligung zeigen sich hingegen trotz Annäherungen noch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern und zwischen Ost- und Westdeutschland. So lag die Erwerbstätigenquote westdeutscher Frauen 2021 um knapp acht Prozentpunkte unter der von westdeutschen Männern (71,5 Prozent vs. 79,4 Prozent). 1991 war die Differenz indes noch fast dreimal so groß. Auch die Erwerbstätigenquote von Frauen in Ostdeutschland ist mit aktuell 74,0 Prozent höher als 1991, und der Abstand gegenüber ostdeutschen Männern (78,5 Prozent) von knapp 12 auf gut vier Prozentpunkte gesunken. In den letzten Jahren hat sich in beiden Landesteilen allerdings wenig getan.
Der langfristige Aufholprozess bei der Erwerbsbeteiligung beruht allerdings vor allem auf mehr weiblicher Teilzeitarbeit. In Ostdeutschland ist der Anteil der Teilzeitstellen an allen Beschäftigungsverhältnissen von Frauen zwischen 1991 und 2021 um 15,7 Prozentpunkte gewachsen, im Westen um 13,5 Prozentpunkte. Trotz eines insgesamt geringfügigen Rückgangs seit Ende der 2010er Jahre lag die Teilzeitquote der westdeutschen Frauen zuletzt bei 47,8 Prozent, das ist deutlich über der der ostdeutschen (33,2 Prozent). Auch bei Männern ist der Teilzeitanteil über die vergangenen drei Dekaden gewachsen, er fällt indes weitaus niedriger aus und betrug 2021 in Ost und West je 11,7 Prozent.
- Rückstand gegenüber Männern bei der Arbeitszeit: 4,6 Stunden im Osten, sogar 8,4 im Westen -
Die unterschiedlichen Teilzeitquoten führen auch zu erheblichen Differenzen bei der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit im Erwerbsjob: In den westlichen Bundesländern liegt diese für Frauen bei 30 Stunden, das sind 8,4 Stunden weniger als bei westdeutschen Männern. In den östlichen Bundesländern ist die durchschnittliche Arbeitszeit weiblicher Erwerbstätiger höher und der Abstand geringer: Sie beträgt 33,9 Stunden, 4,6 Stunden weniger als bei den Männern. In beiden Landesteilen ist der Rückstand der Frauen in den vergangenen Jahren leicht gesunken.
Der Anteil der erwerbstätigen Frauen, die lediglich einen Minijob haben, war 2021 mit 15,1 Prozent im Westen sogar fast doppelt so hoch wie in Ostdeutschland mit 8,6 Prozent - obwohl dieser Anteil in den vergangenen 20 Jahren vor allem im Westen spürbar kleiner geworden ist. Ostdeutsche Frauen liegen bei den ausschließlichen Minijobs praktisch gleichauf mit westdeutschen Männern (8,8 Prozent). Dagegen haben im Osten von den Männern lediglich 7,5 Prozent nur eine geringfügige Beschäftigung.
Im Vergleich weniger betroffen als Männer sind Frauen in West und Ost von einer anderen häufig prekären Beschäftigungsform, der Leiharbeit. 2022 waren 3,0 Prozent der ostdeutschen und 2,8 Prozent der westdeutschen Männer Leiharbeitende. Unter den Frauen im Osten galt das für 1,4 Prozent und im Westen für 1,3 Prozent. Auch bei der Arbeitslosigkeit stehen Frauen in beiden Landesteilen etwas besser da als Männer: 2022 hatten 7,9 Prozent der männlichen und 6,8 Prozent der weiblichen abhängig Beschäftigten im Osten keine Arbeit. Im Westen galt das für 5,6 bzw. 5,2 Prozent.
- Kinderbetreuung: Weiter deutliches Ost-West-Gefälle -
Die deutlichen Unterschiede beim zeitlichen Erwerbsumfang in West und Ost lassen sich auch gut beobachten, wenn man auf die Verteilung der Erwerbsarbeit in Paarhaushalten mit zwei Erwerbstätigen schaut. In 52,1 aller Haushalte ohne minderjährige Kinder in Westdeutschland arbeiten beide Partner*innen in Vollzeit. Leben Kinder im Haushalt, so trifft dies nur noch auf 21,5 Prozent zu. Viel häufiger (71,7 Prozent) ist dann, dass der Mann Vollzeit und die Frau Teilzeit arbeitet. In Ostdeutschland ist die Vollzeittätigkeit beider Partner*innen hingegen mit und ohne Kinder die häufigste Konstellation: Sie findet sich in 63,0 Prozent der Haushalte ohne Kinder, aber auch in 48,7 Prozent der Haushalte mit minderjährigen Kindern. Zur gleicheren Verteilung passt, dass junge Väter im Osten häufiger als im Westen Elternzeit nehmen, allerdings ist der Unterschied mit 47,8 Prozent vs. 42,6 Prozent im Elterngeldbezug nicht sehr groß.
Die Differenzen bei Familien mit Kindern hängen nach der WSI-Analyse auch stark mit dem unterschiedlichen Angebot an institutioneller Kinderbetreuung zusammen. Gerade bei der Ganztagsbetreuung ist die Differenz groß: 2022 wurden in Ostdeutschland 40,8 Prozent der Kinder unter drei Jahren und 73,4 Prozent der 3- bis 6-Jährigen ganztags außer Haus betreut. Dagegen sind es im Westen nur 14,8 bzw. 41,4 Prozent - bei spürbar höherer Nachfrage. Immerhin hat sich das Angebot an Ganztags-Kinderbetreuung in Westdeutschland über die letzten anderthalb Jahrzehnte mehr als verdoppelt, so dass die Abstände zwischen beiden Landesteilen etwas kleiner geworden sind.
"Sowohl die Unterschiede zwischen Ost und West als auch die schrittweise Annäherung zeigen, dass Fortschritte bei der Gleichstellung sehr oft von Rahmenbedingungen abhängen, die der Staat gestalten kann - etwa Investitionen in Infrastruktur", sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. "Dabei ist es sehr wichtig, dass nicht nur Kapazitäten ausgebaut werden, sondern auch verlässlich funktionieren. Aus unserer Erwerbspersonenbefragung wissen wir, dass in letzter Zeit viele Eltern damit konfrontiert sind, dass Betreuungseinrichtungen als Folge von Personalmangel Öffnungszeiten reduzieren oder zeitweilig schließen. Es bleibt dann in erster Linie wieder an den Müttern hängen, solche Engpässe zu überbrücken."
- Gender-Pay-Gap im Osten viel kleiner - aber auch, weil Männer weniger verdienen -
Die Unterschiede bei Kinderbetreuung und Arbeitszeiten tragen, unter anderem wegen nach wie vor geringerer Karrieremöglichkeiten von Teilzeitbeschäftigten, wesentlich dazu bei, dass die Lohnlücke in Westdeutschland weiterhin deutlich höher ist als in Ostdeutschland: In Westdeutschland lag 2022 der durchschnittliche Stundenlohn von Frauen 18.9 Prozent unter dem von Männern, der Abstand war fast dreimal so groß wie in Ostdeutschland (dort 6,9 Prozent). Allerdings spielt bei den geringeren Unterschieden im Osten ein weiterer Faktor eine erhebliche Rolle: Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Osten sind deutlich niedriger als im Westen, und bei Männern fällt der Rückstand größer aus als bei Frauen. Diese Diskrepanz zeigt sich auch bei der Einkommensverteilung: 30,5 Prozent der vollzeitbeschäftigten westdeutschen Männer hatten 2022 monatliche Bruttoeinkommen über 5000 Euro - gegenüber 18,4 Prozent der westdeutschen Frauen, 17,8 Prozent der ostdeutschen Männer und 15,0 Prozent der ostdeutschen Frauen.
Mit Niedrigeinkommen unter 2000 Euro monatlich für eine Vollzeitstelle mussten 12 Prozent der weiblichen Beschäftigten in Ost- und 10 Prozent in Westdeutschland auskommen. Bei den Männern waren es 8 Prozent im Osten und 4 Prozent im Westen. "Es ist also wichtig, zusätzlich sehr genau hinzuschauen, auf welchem absoluten Niveau sich geschlechtsspezifische Differenzen darstellen", sagt WSI-Direktorin Kohlrausch. "Neben den erheblichen Unterschieden in der Wirtschaftsstruktur trägt auch die niedrigere Tarifbindung im Osten zum insgesamt niedrigeren Lohnniveau bei." Immerhin: Im vergangenen Jahr hat die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro für einen spürbaren Rückgang der Niedrigeinkommen unter 2000 Euro gesorgt - dieser fiel im Osten und insbesondere bei den Frauen dort am stärksten aus.
Die weiterhin deutlichen Unterschiede in den Erwerbsverläufen ost- und westdeutscher Frauen führen auch zu Differenzen bei der Absicherung im Alter. Dabei wirkt sich der höhere zeitliche Erwerbsumfang ostdeutscher Frauen stärker aus als die niedrigeren Löhne im Osten, so dass ihre durchschnittlichen Altersrenten höher sind. Dementsprechend beziehen Frauen in Ostdeutschland im Durchschnitt rund 84 Prozent der gesetzlichen Altersrente, die ostdeutsche Männer haben. Die geschlechtsbezogene Rentenlücke beträgt also 16 Prozentpunkte. Im Westen ist sie mit 39 Prozentpunkten mehr als doppelt so groß.
- Anteil der Frauen in Führungspositionen im Osten spürbar höher -
Weiterhin Rückstände, die im Osten aber etwas kleiner sind, zeigt die Studie schließlich auch bei der Partizipation von Frauen an betrieblichen Führungspositionen - insbesondere auf den obersten Führungsetagen: Hier wurden in Ostdeutschland 2020 lediglich 31 Prozent der Stellen von Frauen ausgefüllt, in Westdeutschland sogar nur 26 Prozent. Der Anteil ist im Verlauf eines Jahrzehnts allenfalls geringfügig gewachsen. Besser sieht es nach der WSI-Analyse auf der zweiten Führungsebene aus, wo der Frauenanteil in Westdeutschland mit 39 Prozent dem Anteil an allen Beschäftigten (43 Prozent) relativ nahe kommt. In Ostdeutschland sind Frauen auf der zweiten Führungsebene sogar leicht überrepräsentiert (46 Prozent vs. 44 Prozent).
- Empfehlungen für mehr Gleichstellung: Mehr Tarif, bessere Kinderbetreuung, mehr Vätermonate, ausgeglichenere Arbeitszeiten, effektivere Regelungen gegen Diskriminierungen, Aufwertung von Berufen -
Eine Stärkung der Tarifbindung als Maßnahme für höhere Einkommen ist nach Analyse der Forschenden ebenso notwendig wie verpflichtende Vorgaben für Geschlechteranteile in Vorständen und ein erweiterter Geltungsbereich der Geschlechterquote in Aufsichtsräten, die bislang nur greift, wenn Unternehmen börsennotiert und zugleich paritätisch mitbestimmt sind. Um die Gleichstellung von Frauen und Männern auf breiter Linie wirksam zu fördern, empfehlen sie darüber hinaus unter anderem:
- Stärkere Anreize für Männer, Sorgearbeit zu übernehmen, etwa durch eine schrittweise Erweiterung der Partnermonate im Elterngeld auf sechs.
- Einen weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau der institutionellen Betreuung von Kleinkindern. Bessere Personalschlüssel, mehr Ausbildung von Fachkräften in der frühen Bildung.
- Eine finanzielle Aufwertung von frauendominierten Berufen im Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitsbereich, um diese für beide Geschlechter attraktiver zu machen.
- Gleichbehandlung aller Arbeitsverhältnisse bei Arbeitsbedingungen und sozialer Sicherung; Minijobs sollten möglichst in reguläre Beschäftigung überführt werden.
- Effektive Vorgaben für Betriebe und Verwaltungen, ihre Entgeltpraxis regelmäßig auf Diskriminierungsfreiheit zu prüfen.
- Schaffung von Arbeitsplätzen in kurzer Vollzeit und Abkehr von der Vollzeit- bzw. Überstundenkultur. Voraussetzung dafür sind unter anderem eine ausreichende Personalbemessung, verbindliche Vertretungsregelungen und Beförderungskriterien, die sich nicht an der Präsenz am Arbeitsplatz bzw. Überstunden orientieren.
- Förderung der Aufteilung von Führungspositionen auf zwei Teilzeitstellen.
- Mehr Mitsprache für Beschäftigte bei Dauer und Lage ihrer Arbeitszeit.
- Abschaffung des Ehegattensplittings, das vor allem in Westdeutschland ökonomische Fehlanreize für Ehefrauen nach der Familiengründung setzt, dem Arbeitsmarkt fernzubleiben oder die Arbeitszeit deutlich zu reduzieren.
*Svenja Pfahl, Eugen Unrau, Maike Wittmann, Yvonne Lott: Stand der Gleichstellung von Frauen und Männern auf den Arbeitsmärkten in West- und Ostdeutschland? WSI-Report Nr. 88, September 2023. Download: https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-00869
Quelle und Kontaktadresse:
Hans-Böckler-Stiftung
Rainer Jung, Leiter, Pressestelle
Hans-Böckler-Str. 39, 40476 Düsseldorf
Telefon: (0211) 77780, Fax: (0211) 7778120
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