Hohes Flexibilitätspotenzial des deutschen Tarifsystems / Analyse von 80 Wirtschaftszweigen mit 15 Millionen Beschäftigten
(Düsseldorf) - Die Kritiker des vermeintlich zu starren deutschen Flächentarifvertrags wissen nicht, wovon sie reden oder sie kritisieren wider besseres Wissen. Zu dieser Schlussfolgerung kommt Dr. Reinhard Bispinck, der Tarifexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung, aufgrund einer umfassenden Analyse von tariflichen Öffnungsklauseln.
Es gibt keine wichtige Branche, für die nicht in den vergangenen Jahren eine oder mehrere substanzielle Öffnungsklauseln vereinbart worden sind. In den Tarifverträgen von über 80 Wirtschaftszweigen und Tarifbereichen für rund 15 Millionen Beschäftigte finden sich nach Angaben des WSI hunderte von Öffnungsklauseln, die eine Anpassung der tariflichen Regelungen und Leistungen an die betrieblichen Erfordernisse erlauben. Sie beziehen sich auf Löhne und Gehälter, Arbeitszeitdauer und -verteilung, Urlaubs- und Weihnachtsgeld und andere tarifliche Vorschriften. Zahl, Art und Ausgestaltung der Regelungen fallen dabei je nach Tarifbereich sehr unterschiedlich aus (vgl. Übersicht). In manchen Fällen erreicht die Tariföffnung und Delegation der Konkretisierung von tariflichen Rahmenregelungen an die Betriebsparteien ein Ausmaß, das die Gestaltungskraft des Tarifvertrags deutlich schwächt.
Für den WSI-Tarifexperten ist wichtig: Wo Flächentarifvertrag draufsteht, müssen verbindliche Mindeststandards drin sein. Öffnungsklauseln müssten die Ausnahme von der Regel bleiben, sonst werde aus dem Flächentarifvertrag ein Schweizer Käse, meint Bispinck. Verbindliche tarifliche Mindeststandards seien auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wie für den einzelnen Arbeitgeber von Vorteil, weil sie einheitliche Bedingungen für die Arbeitskosten schaffen und zugleich den Wettbewerb der Firmen auf die strategisch wichtigen Felder wie Innovation, Produktqualität, Service etc. lenken.
Die bestehenden Regelungen werden breit angewendet: 35 Prozent der Betriebsräte gaben in der WSI-Betriebsrätebefragung 2002 an, dass die tariflichen Öffnungsklauseln betrieblich genutzt werden. Allerdings fällt die Einschätzung dieser Entwicklung zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik durch die Betriebsräte eher skeptisch aus. Lediglich eine Minderheit von 14 Prozent der betrieblichen Interessenvertretungen begrüßt die Öffnung der Tarifverträge. Knapp 38 Prozent der Befragten beurteilen diese Entwicklung zwiespältig, und 42 Prozent halten es für generell problematisch, weil dieser Trend zu einer (noch) stärkeren Belastung des Betriebsrats führt und eine wirkungsvolle Einflussnahme oft kaum noch möglich ist. Der Rest (6 Prozent) schließt sich keiner dieser Positionen an (schwer zu beurteilen).
Quelle und Kontaktadresse:
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