Pressemitteilung |

Gesundheitsreform 2000 - Irrweg in die Zukunft

(Köln) - Der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes - Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, Dr. Maximilian Zollner, auf der Bundeshauptversammlung am 20. November 1999 in Köln:

"Gesundheitsreform 2000 - Irrweg in die Zukunft - nicht als Frage, sondern als Aussage formuliert, muss den Machern des Gesetzes provokant in den Ohren klingen. Und diese Provokation ist von mir auch gewollt, um damit Aufmerksamkeit bei Verantwortlichen und vor allem auch bei Betroffenen zu erzielen.

"Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen" war das Motto, unter dem die rot-grüne Koalition angetreten ist. Heute ist sichtbar: Vieles ist angegangen worden, vieles ist anders gemacht worden, aber vieles wurde schlechter. Die Regierungsarbeit war begleitet von voreiligen ungefragten oder auch gefragten Meinungsäußerungen einzelner, selbst ernannter "Regierungssprecher", Dementis und erneuten Richtigstellungen. Außer einigen Kurskorrekturen gerieten alle groß angekündigten Reformvorhaben zum Desaster. Angefangen vom Atomausstieg über den Zick-Zack-Kurs des Bundesarbeitsministers bei der Rentenpolitik bis hin zur Steuerreform und dem Sparprogramm des Bundesfinanzministers. Die unselige Diskussion um eine Panzerlieferung an die Türkei ist wohl nur der vorläufig letzte Streitpunkt in einer Serie von Pleiten und Pannen.

Geradezu verzweifelt klangen denn auch die Erklärungsversuche nach den verlorenen Landtagswahlen, man habe versäumt, den Wählern die Inhalte der entsprechenden Programme und Reformvorhaben zu verdeutlichen. Nun, die Wähler hatten sehr schnell und sehr genau verstanden, wohin die Reise mit der rot-grünen Koalition gehen soll und ihre Schlüsse daraus gezogen.

Die Gesundheitspolitik bildet dabei keine Ausnahme. Zwar hat die rot-grüne Regierung im Gesundheitsbereich mit dem so genannten Vorschaltgesetz rasch gehandelt, um ihre Wahlversprechen, wie Reduzierung der Zuzahlungen zu Arzneimitteln und Beitragsstabilität, umzusetzen. Doch was von diesen Versprechungen, mit denen schließlich auch die Wahlen zum Teil gewonnen wurden, an tatsächlicher Reduzierung übrig blieb, ist mit Etikettenschwindel noch milde charakterisiert.

Der Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform 2000 stand von Anfang an in der Kritik, nicht zuletzt wegen der Hektik, mit der dieses Gesetz angegangen wurde. Es gab keine ausreichende Zeit für Gespräche und Diskussionen mit den Betroffenen, ja nicht einmal unter den sachverständigen Politikern, wie häufig geklagt wurde. Es wird kolportiert, der Gesetzentwurf spiegele die Meinungen der einzelnen Sachbearbeiter wider, der Ministerin fehle der nötige Durchblick. Dies würde auch erklären, warum sie sich bei Anhörungen nicht stellt, wie beispielsweise bei einer geplanten Anhörung zur Gesundheitsreform im Haushaltsausschuss. Deshalb wurde auf Antrag der frustrierten Opposition diese Anhörung abgesetzt.

Die 2. und 3. Lesung am 4. November 99 mutierte zum Chaos und war weit entfernt von einem "fast einjährigen geordneten Gesetzgebungsverfahren", wie Frau Bundesministerin in der Bundestagsdebatte behauptete. Ähnliches hat diese parlamentarische Demokratie noch nicht erlebt. Die über 500 Seiten starke Vorlage konnten die Bundestagsabgeordneten gar nicht zur Kenntnis nehmen, da der Entwurf mit 175 Änderungsanträgen erst am späten Vorabend im zuständigen Ausschuss beraten wurde. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, dass dies Taktik war, um dem Parlament die Möglichkeit zu nehmen, sich über die wahren Inhalte des Gesetzentwurfs zu informieren. Zumindest hat die von uns stets kritisierte Hektik die Macher des Gesetzes eingeholt. Ein klassisches Eigentor! Man wollte mit zahlreichen Paragraphen eine Umsteuerung im Gesundheitswesen, eine Kurskorrektur erreichen. Dazu bedarf es aber eines klaren Ziels und eines besonnenen Steuermanns. Beides kann ich nicht erkennen.

Dem Reformwerk droht jetzt allerdings der schnelle Tod, denn die Länderkammer hat das letzte Wort, und die Union und die FDP wollen das Vorhaben stoppen. Da helfen wohl auch nicht die Versprechungen von Frau Bundesministerin Fischer, mit denen sie die CDU-Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer ködern will. Bei Zustimmung im Bundesrat könnten die maroden Ost-Krankenkassen mit Hilfe eines Finanztransfers saniert werden. Ein ebenso durchsichtiger wie plumper Versuch, hat doch die Frau Ministerin ihre letzten Verbündeten, die Krankenkassen - damit zu Recht -, gegen sich aufgebracht. Der Gesetzentwurf droht zu scheitern - und das ist auch gut so. Ich werde das noch näher begründen.

Sollte Frau Fischer aber auf die Idee kommen, wie in der Vergangenheit der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer, das Gesetz in nicht zustimmungspflichtige Einzelgesetze zu zergliedern und das Krankenhaus wegen der notwendigen Länderzustimmung abzukoppeln, wird die Ablehnung durch die niedergelassenen Ärzte in eine noch heißere Phase als jetzt treten. Zusammen mit den übrigen Anbietern im Gesundheitswesen werden wir im Bündnis Gesundheit 2000 alle Möglichkeiten des Protestes ausschöpfen und auch zum zivilen Ungehorsam aufrufen. Wir niedergelassenen Ärzte sind in der Vergangenheit mehrfach mit Reformen überzogen worden, wir haben unseren Teil zur Beitragsstabilität mit Umsatzrückgang und finanziellen Opfern geleistet, wir wollen keine neue Reform, die diesen Namen nicht verdient. Denn mit diesem

Gesetzentwurf geht es nicht um eine Reform, sondern um reine Kostendämpfung. Damit reiht sich dieser Gesetzentwurf und damit dieses Gesetz nahtlos in die Reihe der früheren Kostendämpfungsgesetze ein, obwohl durchaus einige Überschriften Hoffnungen auf Problemlösungen boten. Doch die spätere Ausformulierung machte weitere Erwartungen aber zunichte - Überschriften allein reichen eben nicht aus! Unabhängig vom weiteren Schicksal des Gesetzentwurfes möchte ich meine ablehnende Haltung begründen.

Oberstes Ziel aller Gesetze in der jüngeren Zeit und auch dieses Gesetzesvorhabens ist die Beitragsstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung, um die Lohnnebenkosten zu begrenzen und damit Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Dies wurde so oft und so eindringlich immer wieder behauptet, dass die Richtigkeit der Aussage gar nicht mehr hinterfragt wird. Es wird weder die Frage nach der Zusammensetzung der Lohnnebenkosten gestellt, den Sozialabgaben werden undifferenziert tariflich und betrieblich veranlasste Lohnnebenkosten zugeordnet, noch wie viel Arbeitsplätze in den letzten Jahren neu geschaffen wurden bei relativ stabilen Beiträgen dank der strikten Budgetierung im niedergelassenen Bereich. Im Gegenteil, es wurden weiter Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, es wurde nicht in Deutschland investiert. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Fusionswelle ungekannten Ausmaßes, ausländische Firmen werden für teures Geld aufgekauft und eine Folge der Fusionen ist ein weiterer Abbau von Arbeitsplätzen. Zugespitzt ausgedrückt: Die staatlich verordnete Zurückhaltung in der Beitragsentwicklung hat keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, im Gegenteil droht durch Firmenzusammenschlüsse ein weiterer Abbau.

Nach Ansicht des CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble war der eingeschlagene Weg der Budgetierung falsch und auch Seehofer war bereit, die Daumenschrauben des Budgetzwanges zu lockern. Die vorgesehenen Regelleistungsvolumina, die sich am medizinischen Bedarf orientieren sollten, und die Richtgrößen im Arzneimittelbereich waren auch nach Ansicht der Ärzte der richtige Weg zur Problemlösung. Dies wurde jedoch von der neuen Regierung wegen ihrer fehlenden Sachkompetenz durch das Vorschaltgesetz verhindert.

Beitragsstabilität soll jetzt durch ein staatlich vorgegebenes Globalbudget erreicht werden. In meinen Augen die fantasieloseste Art, ein Problem zu lösen. Ein Globalbudget bedeutet nämlich die Verordnung von Planwirtschaft, die ihre Untauglichkeit zur Genüge unter Beweis gestellt hat. Auch der unlängst nachgeschobene Passus, die Sachverständigen der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen sollten im Abstand von zwei Jahr überprüfen, ob die Zuwachsrate bei den Beiträgen ausreichend sei, mildert das Problem in keinster Weise. Weder der demografische Faktor, noch die Morbiditätsentwicklung, noch die Innovationen sind im Globalbudget berücksichtigt. Deshalb ist eine Umsetzung ohne Qualitätsverlust nicht möglich, auch wenn dies immer bestritten wird.

Stattdessen werden uns Rationalisierungsreserven ungeahnten Ausmaßes vorgerechnet. Alles sei nur eine Frage der richtigen Verteilung. Beim genaueren Nachfragen werden diese Reserven immer gerade beim nicht anwesenden Partner im Gesundheitswesen gesehen. Ich sage hier mit aller Deutlichkeit: Die Politik drückt sich um eine klare Aussage zur Rationierung in der medizinischen Versorgung, die die Folge einer konsequenten Budgetierung ist, wenn sie nur lange genug dauert. Dagegen wird mit Neidkomplexen und Verdächtigungen gearbeitet. Die Ärzte verdienen alle noch zu viel und der größte Teil betrüge bei der Abrechnung. Eine Aussage, die bei einer pauschalierten Gesamtvergütung zeigt, wie tief die betreffenden Politiker in die Problematik der Honorarverteilung eingedrungen sind. Es müsste sich auch dort längst herumgesprochen haben, dass Mehrarbeit und Mehrabrechnung keinen zusätzlichen Honoraranspruch bei den Krankenkassen auslöst. Aber es lassen sich damit mühelos Klischees bedienen und Stimmung gegen die Ärzte erzeugen.

Auch die Rolle der Ärzteschaft als Arbeitgeber und die Gefährdung von Arbeitsplätzen will man nicht sehen. Fest steht jedoch, dass das Gesundheitswesen nach der Autoindustrie der zweitgrößte Arbeitgeber ist und jeder neunte Arbeitsplatz in Deutschland im Gesundheitswesen bereit gestellt wird. Wachstumsbranchen sollten gefördert werden! So könne man analog zum Kohlepfennig über einen "Gesundheitspfennig" bei gesundheitsgefährdenden Produkten und Tätigkeiten nachdenken. Das Globalbudget, über dessen Umsetzung und Überwachung mir bis heute noch niemand eine klare Antwort geben konnte, ist aber nicht der einzige Kritikpunkt.

Sehr misstrauisch müssen wir den geplanten Machtzuwachs bei den Krankenkassen beobachten. Über Jahrzehnte hinweg waren Ärzte und Krankenkassen als Körperschaften öffentlichen Rechts gleichberechtigte Vertragspartner. Was Seehofer sicherlich nicht ohne Hintergedanken als "Vorfahrt für die Selbstverwaltung" bezeichnete, wird durch den Gesetzentwurf konterkariert. Die Krankenkassen erhalten eine Fülle von Daten ohne Verpflichtung, diese Daten mit den Kassenärztlichen Vereinigungen auszutauschen. Damit wollen sie nach eigenen Aussagen die Ärzte überwachen und Patientenkarrieren verfolgen. Auch wenn die Daten jetzt pseudonymisiert werden und damit die Bedenken der Datenschützer geringer geworden sind, es entsteht ein gigantischer Kontroll- und Überwachungsapparat, gegen den wir uns mit aller Entschiedenheit zur Wehr setzen werden. Wo Daten zusammenlaufen, entsteht auch Begehrlichkeit, diese Daten zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Auch in der Vertragsgestaltung wird der Einfluss der Krankenkassen größer. Verträge mit einzelnen Ärzten oder Arztgruppen waren bisher nicht möglich. Jetzt soll dies im Rahmen der Erprobungsregelungen gehen und auch bei den so genannten Integrationsmodellen sehen die Kassen die Möglichkeit, ihre Vorstellungen zu realisieren und unter Umgehung der Kassenärztlichen Vereinigungen Verträge mit den einzelnen Netzen abzuschließen. Aus Marketinggründen will jede Kassenart ein für sie spezifisches Netz mit besonders nach ihren Vorstellungen qualifizierten Ärzten. Wie im Übrigen auch die Passagen im Gesetzentwurf über die Qualitätssicherung, die sicherlich notwendig ist und von uns immer gefordert wurde, auch dazu dienen, den Einfluss derer, die diese Qualität kontrollieren, zu vergrößern und die Macht der so genannten Leistungsanbieter zu brechen. Das Prinzip der gleichlangen Spieße, die ausgewogene Machtverteilung bei Vertragsverhandlungen, ist mit diesem geplanten Gesetz nicht mehr gegeben. Mit der Möglichkeit, Einzelverträge mit Ärzten oder Arztgruppen abzuschließen, wird der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen ausgehöhlt. Nach dem Willen des Gesetzgebers bleibt den Kassenärztlichen Vereinigungen aber die unangenehme Aufgabe, die Vertragsärzte zu überwachen und mit Prüfverfahren und Regressen zu disziplinieren.

Gegen eine stärkere Professionalisierung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Kassenärztlichen Vereinigungen hat der NAV-Virchowbund nichts einzuwenden. Die Vorkommnisse in den letzten Monaten fordern eine solche Diskussion geradezu heraus. Aber ich möchte für die Vertragsärzte die Möglichkeit erhalten wissen, Vorstände aus den eigenen Reihen wählen zu können. Ob Verhältniswahlrecht oder Persönlichkeitswahlrecht ist für mich zweitrangig. Von entscheidender Bedeutung ist ein größeres Interesse an der Gestaltung der Rahmenbedingungen der eigenen Berufsausübung, das sich besonders in der Wahlbeteiligung ausdrückt. Die Teilnehmerzahlen waren in den letzten Jahren erschreckend niedrig. Wenn dieser Trend durch Änderung des Wahlmodus von der Politik ausgenutzt wird, führt dies nach der Devise "divide et impera" zu einer weiteren Fragmentierung der Interessenvertretung der Ärzte, beliebig verschiebbar auf dem Schachbrett der Macht. Ob Ehrenamtliche oder Profis an der Spitze der Kassenärztlichen Bundesvereinigung stehen, ist dann von nachrangiger Bedeutung. Sie werden Vorsitzende einer geschwächten Organisation sein.

Den größten Etikettenschwindel erleben wir im Bereich der hausärztlichen Versorgung. Von der groß angekündigten Verbesserung in diesem Bereich ist eigentlich nichts übrig geblieben. Vom Bonus für Hausärzte ist keine Rede mehr, jetzt soll es einen Bonus für Versicherte geben, die sich verpflichten, zuerst ihren Hausarzt aufzusuchen, aber erst wenn Einsparpotentiale nachweisbar sind. Der Begrenzung des freien Zugangs zum System hat Frau Minister Fischer in Dresden eine eindeutige Absage erteilt. "Die freie Arztwahl ist ein hohes Gut. Deshalb wäre die abrupte Einführung eines wie auch immer ausgestalteten obligatorischen Primärarztsystem dem Versicherten nicht zu vermitteln." So Frau Ministerin Fischer auf dem Deutschen Hausärztetag in Dresden. Wenn man heute Bilanz zieht und sieht, was von der anfänglichen Euphorie bezüglich der Stärkung der hausärztlichen Versorgung geblieben ist, so muss man feststellen, dass so mancher Gimpel auf die Leimruten ministerieller Versprechungen ging. Im Interesse einer starken, einheitlichen Vertretung der Ärzteschaft wäre es aber nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig, wenn es so bald wie möglich wieder zu einem gemeinsamen Auftreten aller Ärzte käme, zusammen mit Vertretern der Hausärzte.

Unakzeptabel für den NAV-Virchowbund ist auch das Festhalten am Arznei- und Heilmittelbudget und den Kriterien für dessen Weiterentwicklung. Es sind weder Innovationen, weder gehäuft auftretende Erkrankungen, wie bei der Grippewelle im Frühjahr, noch individuelle Risiken in unterschiedlichen Regionen berücksichtigt. Stattdessen behauptet man riesige Einsparreserven, wenn die Umstellung von Markenpräparaten auf Generiks erfolgt und im Übrigen kostengünstige, sprich ältere Originalpräparate verordnet werden. Typisch für die Denk- und Vorgehensweise ist das so genannte "Benchmarking". Dabei soll der Mittelwert aus den drei billigsten Kassenärztlichen Vereinigungen als Richtschnur für die übrigen Kassenärztlichen Vereinigungen gelten. Das kann doch dem tatsächlichen Versorgungsbedarf einer Region nicht gerecht werden. Die Haftung bei Arzneimitteln trifft bei zurückhaltender Verschreibung unmittelbar den Patienten, der mit preigünstigeren Präparaten zufrieden sein muss, für Wunschverordnungen und für Medikamente bei geringfügigen Gesundheitsstörungen ein Privatrezept bekommt. Solange alle Leistungen zur Verfügung stehen, interessiert Punktwertverfall, Pauschalhonorar und Budgetüberschreitung den Patienten nicht, erst wenn es zur Begrenzung in der Medikamentenversorgung kommt und ein größerer Eigenanteil zu leisten ist, wird eine Diskussion um das Reformgesetz möglich.

Der NAV-Virchowbund wendet sich auch klar und entschieden gegen eine weiter gehende Öffnung der Krankenhäuser. Dies führt zu einer unerträglichen Konkurrenzsituation bei niedergelassenen Fachkollegen. Wir haben eine hochwertige fachärztliche Versorgung, die für eine rasche, patientennahe und effiziente Problemlösung der Versicherten bereit ist. Der Gesetzgeber darf nicht mit einer Änderung der Arbeitsbedingungen den fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen die Existenzgrundlage entziehen.

Ich habe eingangs gesagt, das Reformgesetz 2000 wäre ein weiteres reines Kostendämpfungsgesetz. Nein, es ist mehr. Es ist ein Gesetz zur Umverteilung von Macht. Der Einfluss der Leistungsanbieter soll zurückgestutzt werden, die Kassen noch mehr Steuerungsmacht bekommen.

Das Prädikat "Reformgesetz" verdient es deswegen nicht, weil fast ausschließlich über das Globalbudget gesteuert werden soll. Die wenigen strukturellen Veränderungen werden nicht greifen und sollten sie greifen, bringen sie keine Verbesserung. Der entscheidende Minuspunkt dieses Gesetzentwurfs liegt in der fehlenden Aussage zur zukünftigen Finanzierung des Systems. Es wird geradezu ängstlich vermieden, eine klare Position zu beziehen. Stattdessen glauben die Verantwortlichen, mit einer Budgetierung die finanziellen Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung lösen zu können. Gleichzeitig erwecken sie den Eindruck, alle Gesundheitsleistungen könnten weiter uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Es fehlt der Mut, die aus den reduzierten Mitteln folgende Rationierung einzugestehen und eine Grundversorgung zu definieren. Weiter gehende Wünsche an die Gesundheitsversorgung müssten dann zusätzlich versichert werden. Das ist kein Phänomen unseres Systems, sondern findet sich in allen anderen Ländern mehr oder minder gravierend auch. Die Gesundheitssysteme stoßen an ihre Grenzen, der finanzielle Rahmen ist ausgereizt. Wenn man eine Grundversorgung nicht definieren will oder kann, muss mehr Geld ins System kommen. Entweder über eine höhere Zuzahlung und Eigenbeteiligung oder über eine anderweitige zusätzliche Finanzierung auf dem Wege einer Wertschöpfung anderer Art.

Der NAV-Virchowbund hat zu diesem Problem bei der außerordentlichen Bundeshauptversammlung im April 1998 ein Papier erarbeite, das heute aktueller denn je ist. Der Grundsatz "jedem alles zu Lasten der Solidargemeinschaft" hat finanziell in eine Sackgasse geführt. Notwendig ist eine Reform des Solidargedankens. Dieser Solidargedanke hat in den letzten 50 Jahren den sozialen Frieden in Deutschland gesichert. Er wurde aber auch ausgebeutet und ist in eine Schieflage geraten. Die Koalition will mit dem im Bundestag beschlossenen Gesetz eine Stärkung der Solidargesellschaft erreichen. Neben der Säule Solidarität vernachlässigt sie aber völlig die Subsidiarität und die Eigenverantwortung, die eine Solidargemeinschaft erst tragfähig machen. Wenn überhaupt, kommen diese Ideen nur in der Präambel und den Überschriften des Gesetzes vor. Sinnvoller erscheint das jetzt veröffentlichte Diskussionspapier des CDU-Bundesvorstandes mit einer Grundversorgung, die die großen Gesundheitsrisiken abdeckt und der Möglichkeit freiwilliger Zusatzleistungen. Sozialverträgliche Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen mindern die finanziellen Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung und tragen zum Erhalt des Systems bei.

Dem Konzept der Koalition fehlt hingegen die Auseinandersetzung um das zentrale Problem der gesetzlichen Krankenversicherung. Es gibt keine Antwort auf die nicht ausreichende Einnahmenentwicklung auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit, der unbeständigen Beschäftigungsverläufe und einer dadurch sinkenden Lohnquote. Es gibt keine Antwort auf die Herausforderungen der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts. Das ganze Gesetz ist durchdrungen vom Geist eines tiefen Misstrauens gegenüber den Leistungserbringern und auch den Versicherten. Die geplante Datenüberwachung mit dem "gläsernen Patienten" soll meine Aussage belegen.

Ausgerechnet die PDS gewinnt bei der Unzufriedenheit im Lande mit dem Slogan der "sozialen Gerechtigkeit" Stimmen und ist auf dem Weg die drittstärkste Kraft im Parteienspektrum zu werden. Um die Umsetzungsmöglichkeiten dieser Vorschläge schweigt sich die Partei aber aus.

Wir rufen alle verantwortlichen Parteien auf, ein Gesetz zu entwickeln, dass den Anforderungen, die das Gesundheitswesen stellt, gerecht wird. Eine sture Budgetierung wird von uns nachdrücklich abgelehnt. Wenn der Gesetzentwurf scheitert - und ich hoffe, er wird scheitern - bedarf es eines zweiten Anlaufs unter Einbeziehung aller Beteiligten, besonders der Ärzte. Vielleicht klappt das beim zweiten Mal schon aus politischer Klugheit und schmerzlicher Erfahrung.

Quelle und Kontaktadresse:
NAV-Virchow-Bund

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