Die Bestimmungen der Istanbul- Konvention dürfen in familienrechtlichen Verfahren nicht ignoriert werden
(Berlin) - Die Istanbul-Konvention enthält das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, sie schützt Frauen und Mädchen vor jeglicher Form von Gewalt. Was immer noch vielfach vergessen wird, sie dient auch dem Schutz unserer Kinder.
Deutschland hat diesen völkerrechtlichen Vertrag ratifiziert, seit dem 1. Februar 2018 ist es damit an seine Bestimmungen rechtlich gebunden. "Doch obwohl dieser Zeitpunkt inzwischen mehr als fünf Jahre zurückliegt, ist die Bundesrepublik von einer Umsetzung weit entfernt", resümiert der Ehrenvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe Rainer Becker. "Dabei hat sie den Status eines Bundesgesetzes, dass von Politik, Verwaltung und Richterschaft verbindlich zu beachten ist", so Becker weiter.
Entgegen den Bestimmungen der Konvention werden Fälle von häuslicher Gewalt von Jugendämtern und Familiengerichten viel zu oft als Partnerschaftskonflikt betrachtet. Viel zu selten wird in solchen Fällen die Erziehungsfähigkeit übergriffig gewordener Eltern-(Teile) hinterfragt. Das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung steht im Vordergrund.
Dabei macht Artikel 21 der Istanbul-Konvention klare Vorgaben. Darin heißt es : "Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden". Und weiter in Absatz zwei: "Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet".
"Doch davon sind wir in der deutschen Familienrechtssprechung noch weit entfernt", erklärt Rainer Becker. "Noch immer müssen wir feststellen, dass Gerichte keine Probleme mit Umgängen haben, weil ja nicht das Kind, sondern 'nur' der andere Elternteil geschlagen wurde und dass Jugendämter und Gerichte Umgänge verlangen, obwohl noch Ermittlungen anhängig sind", konstatiert der Ehrenvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe.
Es kommt noch schlimmer: Wenn ein Elternteil seine Fürsorgepflicht gegenüber seinem Kind erfüllt und zu verhindern versucht, dass sein Kind den Risken von Gewalt und sexualisierter Gewalt ausgesetzt wird, wird ihm das vielfach als Bindungsintoleranz und Eltern-Kind-Entfremdung ausgelegt und ihm droht ein Entzug der elterlichen Sorge.
In der Mehrzahl und nicht nachvollziehbar, scheinen Frauen hiervon betroffen zu sein.
Welche Gefahren Kindern durch Trennungssituationen drohen, belegt ein Blick auf aktuelle Zahlen.
Danach gab es 2021 rund 143.604 Fälle häuslicher Gewalt in Deutschland, bei denen 108 Frauen und 12 Männer gewaltsam zu Tode kamen. Rund ein Drittel der Taten erfolgt nach einer Trennung. Mindestens in jedem zweiten Fall häuslicher Gewalt gehören Kinder zum Haushalt, die die Gewalt miterleben mussten.
2021 starben 145 Kinder durch Gewalt, 118 von ihnen waren unter 6 Jahre alt.
Untersuchungen zufolge starb mindestens jedes vierte Kind, das durch Gewalt zu Tode kam, in Zusammenhang mit einer Trennung der Erziehungspersonen bzw. einem Streit um das Sorge- oder Umgangsrecht (vgl. hierzu u. a. Haug, M. & Zähringer, U., Tötungsdelikte an 6- bis 13-jährigen Kindern in Deutschland. Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997 bis 2012), KFN-Forschungsbericht No. 134, KFN Hannover 2017).
Die Deutsche Kinderhilfe fordert daher, bei Vorliegen von häuslicher Gewalt den Ausschluss des Umgangs mit dem gewaltausübenden Elternteil in Betracht zu ziehen, um eine konkrete, gegenwärtig bestehende Gefährdung der
körperlichen, geistigen oder seelischen Entwicklung des Kindes abzuwenden. Das Wohl des Kindes muss im Mittelpunkt stehen.
Der gewaltausübende Elternteil muss beweisen, dass durch den Umgang keine Gefahr für das Kindeswohl besteht. Der Konflikt zwischen Elternrecht und Kindeswohl muss stets abgewogen werden zwischen dem Risiko einer Eltern-Kind-Entfremdung und dem Risiko einer (Re-) Traumatisierung des Kindes.
Dabei müssen der Schutz und die Bedürfnisse der Kinder stets Vorrang haben. Aus diesem Grund ist es erforderlich, dass der Kindeswille berücksichtigt wird. "Beides nehme ich derzeit bei einer Vielzahl familienrechtlicher Verfahren nicht als nicht umgesetzt wahr", sagte Becker in seiner Rede anlässlich der Demonstration für die Umsetzung der Istanbul- Konvention am 2. März in Berlin.
Dafür müssen die Jugendämter und Familiengerichte die Istanbul Konvention uneingeschränkt umsetzen. Dazu gehört das Bewusstsein, dass es bei ihren Entscheidungen, um das Kindeswohl zu gehen hat und nachrangig um das Wohl betroffener Eltern. In diesem Zusammenhang ist es nicht tolerierbar, dass vielfach ein (auch nur zeitweiliger) Kontaktabbruch zum gewalttätigen Elternteil als schwerwiegendere Kindeswohlgefährdung gilt als die potentielle Gefahr von Gewalt gegen ein Kind. Darin liegt ein klarer Verstoß gegen die Bestimmungen der Istanbul- Konvention. Stattdessen müssen familienrechtliche Entscheidungen und sozialpädagogische Arbeit die Gefahrenabwehr und Strafverfolgung prioritär einbeziehen und damit den Schutz des Kindes gewährleisten, in allen Bereichen müssen endlich dieselben Kriterien gelten.
Der Umgang mit dem Umgang ist ausnahmslos zwischen Familiengericht, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Polizei abzustimmen.
Zwischen dem (die Mutter) schlagendem Elternteil und dem betroffenen Kind darf es keinen Umgang geben, solange die strafrechtlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.
Mütter, die ihr Kind schützen, darf die dann häufig von Amts wegen attestierte vermeintliche Bindungsintoleranz bei Sorge- und Umgangsrechtsfragen nicht benachteiligen, wie es derzeit in einer Vielzahl von Fällen geschieht.
Das gilt umso mehr in Fällen von angezeigter sexualisierter Gewalt an Kindern.
Mehr zum Thema Umgang und Sorgerecht nach sexueller Gewalt an Kindern erfahren Sie in unserem Interview mit Christine Habetha, Dozentin und Rechtsanwältin mit den Schwerpunkten Strafrecht und Opferrecht und dem Ehrenvorsitzenden der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker.
Video-Interview: https://youtu.be/1MPrY5wvmjw
Podcast: https://youtu.be/dSutr28UTYw
Quelle und Kontaktadresse:
Deutsche Kinderhilfe - Die ständige Kindervertretung e.V.
Rainer Becker, geschäftsführender Vorstandsvorsitzender
Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin
Telefon: (030) 24342940, Fax: (030) 24342949