Der deutsche Arbeitsmarkt braucht mehr Zuwanderer
(Köln) - Dass Deutschland ein Demografieproblem hat, ist nicht neu. Tatsächlich aber sind die Prognosen für die Bundesrepublik hinsichtlich der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ziemlich ungünstig - gerade auch im Vergleich mit den anderen EU-Ländern. An einer nationalen Politik zur Demografievorsorge und Fachkräftesicherung führt daher kein Weg vorbei.
Sie spielen in der Fußball-Nationalmannschaft, pflegen Alte und Kranke oder unterrichten den Nachwuchs: Ohne Zuwanderer sähe der deutsche Arbeitsmarkt ganz schön alt aus.
Die Redewendung ist hier durchaus wörtlich zu verstehen: Anfang 2020 befanden sich knapp 60 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, waren also zwischen 20 und 64 Jahre alt. Und mehr als ein Fünftel (21,2 Prozent) waren Zuwanderer: In den vergangenen Jahren gab es insbesondere aus Polen, Rumänien und Bulgarien eine starke Nettozuwanderung, die zu großen Teilen aus Erwerbsgründen erfolgt ist und sich damit besonders positiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt hat.
Ohne Zuwanderung können in Deutschland nur sechs von zehn der 55- bis 59-Jährigen, die in den nächsten Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, durch die nachrückende Generation ersetzt werden.
Insgesamt sind in den zehn Jahren von 2011 bis 2020 unter dem Strich 4,36 Millionen Menschen in die Bundesrepublik zugewandert, wenn man die Zuzüge mit den Fortzügen verrechnet.
Doch so beeindruckend diese Zahl auch aussehen mag, die Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind - schon heute - noch größer. Denn die Zuwanderung der vergangenen Jahre hat nicht ausgereicht, um die immer gravierenderen Fachkräfteengpässe auszugleichen, wie sie etwa in vielen MINT-Berufen - also in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik - oder im Handwerk vorherrschen. Und der Blick nach vorn stimmt nicht eben zuversichtlich: Wie gewaltig die demografischen Herausforderungen in Deutschland sind, zeigt ein Blick auf die aktuelle Altersverteilung, die nicht zuletzt das Verhältnis der aus dem Arbeitsmarkt ausscheidenden und nachrückenden Kohorten abbildet. Sie verheißt für die Zukunft nichts Gutes: Auf 100 Personen zwischen 55 und 59 Jahren kommen in Deutschland derzeit nur 59 im Alter von 15 und 19 Jahren - das ist der EU-weit niedrigste Wert für diese Altersrelation.
Ende Januar 2021 standen jeweils 100 Älteren so viele Jüngere gegenüber
Ohne Zuwanderung können also nur sechs von zehn der 55- bis 59-Jährigen, die in den nächsten Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden werden, durch die nachrückende Generation ersetzt werden. Noch ungünstiger sieht es in Deutschland bei den 50- bis 54-Jährigen aus: 100 Personen dieser Altersgruppe stehen 55 Zehn- bis 14-Jährige gegenüber, das ist ebenfalls der niedrigste Wert aller 27 EU-Mitgliedsstaaten.
Wenn es Deutschland nicht gelingt, in den nächsten Jahren in großem Maß Zuwanderer zu gewinnen, wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter stark zurückgehen. Wie die diesbezügliche Entwicklung konkret aussehen könnte, zeigt das IW anhand der europäischen Bevölkerungsvorausberechnung auf, die verschiedene Migrationsszenarien berücksichtigt. Für Deutschland ist die Perspektive in keinem Fall günstig (Grafik):
Wenn das wahrscheinlichste Migrationsszenario eintritt, sinkt die Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter in Deutschland bis 2030 um 6,8 Prozent - noch größer wäre das Minus nur in sechs anderen EU-Ländern.
In fünf Ländern dagegen würde in diesem Szenario die Zahl der 20- bis 64-Jährigen weiter steigen: in Malta, Irland, Luxemburg, Schweden und Zypern.
Und was passiert, wenn es gar keine Zuwanderer mehr gibt? Ganz ohne Migranten würde in Deutschland bis 2030 die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter um rund 11 Prozent schrumpfen, ein Minus, das innerhalb der EU nur noch von Litauen (minus 12 Prozent) übertroffen werden würde. Ohne Zuwanderung würde es mittelfristig in nahezu allen EU-Staaten zu starken Rückgängen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter kommen, wobei neben Deutschland vor allem die südeuropäischen Länder besonders betroffen wären. Deutlich positiver stellt sich dagegen die Lage in Nord- und Westeuropa dar. In Frankreich beispielsweise würde die Zahl der Einwohner im erwerbsfähigen Alter auch ohne künftige Zuwanderung bis 2030 nur um knapp 2 Prozent zurückgehen.
Nötig ist eine gezielte Ansprache ausländischer Fachkräfte
Da sich die EU-Staaten also ziemlich unterschiedlichen Bevölkerungsprognosen gegenübersehen, erscheint es weder realistisch noch sinnvoll, eine gemeinsame Demografievorsorge- und Fachkräftesicherungspolitik auf EU-Ebene zu gestalten. Eine Abstimmung untereinander ist zwar notwendig, doch Deutschland muss angesichts der großen Demografie- und Fachkräftesicherungsprobleme eigene Strategien für ein auskömmliches Bevölkerungswachstum entwickeln. Dazu zählen beispielsweise die gezielte Ansprache von Fachkräften aus dem Ausland, die Ausgestaltung rechtlicher Zugangswege sowie Qualifizierungsangebote für Zuwanderer.
Quelle und Kontaktadresse:
Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW)
Wido Geis-Thöne, Senior Economist für Familienpolitik und Migrationsfragen
Konrad-Adenauer-Ufer 21, 50668 Köln
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