Chemisch-pharmazeutische Industrie - Stimmung heller, Sorgen bleiben
(Frankfurt am Main) - Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat im vierten Quartal 2022 ihre Talfahrt fortgesetzt. Die Produktion brach weiter ein und die KapazitĂ€ten waren nicht ausgelastet. Die sinkende Nachfrage der industriellen Kunden sowie rĂŒcklĂ€ufige Erzeugerpreise fĂŒhrten im letzten Quartal des Jahres auch zu einem RĂŒckgang der UmsĂ€tze im In- und Ausland.
Der Blick in die Zukunft hat sich in Deutschlands drittgröĂter Industriebranche dagegen etwas aufgehellt. Die deutlich gesunkenen Energie- und Rohstoffpreise der vergangenen Monate haben die Situation inzwischen stabilisiert. Die Talsohle scheint erreicht. Der Verband der Chemischen Industrie rechnet aber nicht mit einer kraftvollen Erholung. Im internationalen Vergleich hohe Energiekosten, der Auftragsmangel und Standortprobleme sprechen dagegen. Die Lage am Chemie- und Pharmastandort bleibt damit schwierig.
VCI-HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrer Wolfgang GroĂe Entrup kommentiert die aktuelle Situation: "Die Energiekrise hat es offenbart: Deutschland hat ein enormes Standortproblem. Ob Energie, Infrastruktur, FachkrĂ€fte, Digitalisierung oder ein effizientes, leistungsfĂ€higes Staatswesen: Wir glauben uns vorne, spielen aber inzwischen gegen den Abstieg. Nur ein industriepolitischer Neustart hĂ€lt uns im Wettlauf um die MĂ€rkte der Zukunft in der ersten Liga. Dabei gilt: Weniger ist mehr. Weniger Regulation fĂŒr mehr Transformation. Unsere Antwort auf den IRA der USA sollte ein RRA sein - ein Regulation Reduction Act."
Die wirtschaftlichen Zahlen im Ăberblick:
- Die Produktion ging im Vergleich zum Vorquartal um 5 Prozent zurĂŒck. Im Vorjahresvergleich entsprach dies einem Minus von 14 Prozent. Die KapazitĂ€tsauslastung der Branche sank erneut und lag zuletzt bei 76,5 Prozent.
- Die Erzeugerpreise sanken erstmals seit dem 2. Quartal 2020 wieder: im Vergleich zum Vorquartal um 0,3 Prozent. Damit waren chemische und pharmazeutische Erzeugnisse immer noch fast 18 Prozent teurer als ein Jahr zuvor.
- Sinkende Nachfrage, starke Produktionsdrosselungen und rĂŒcklĂ€ufige Erzeugerpreise fĂŒhrten im letzten Quartal des Jahres auch zu einem RĂŒckgang der UmsĂ€tze. Der Gesamtumsatz der Chemie- und Pharmaindustrie sank saisonbereinigt um 3,7 Prozent auf insgesamt 59,2 Milliarden Euro.
- Die Zahl der BeschÀftigten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 0,5 Prozent gestiegen. Aktuell sind rund 475.560 Menschen in der Branche beschÀftigt.
- Betrachtet man das Gesamtjahr 2022, ging die Produktion um 6,6 Prozent zurĂŒck. Rechnet man das PharmageschĂ€ft heraus, ist das Minus mit 11,9 Prozent sogar zweistellig. Das Umsatzplus in Höhe von 16,6 Prozent ist vor allem auf die Preissteigerungen von knapp 22 Prozent zurĂŒckzufĂŒhren. Hohe Preise fĂŒhrten wiederum dazu, dass die Verkaufsmengen um mehr als 5 Prozent zurĂŒckgegangen sind. Bei gleichzeitig rasant steigenden Energie- und Rohstoffkosten schrumpften letztendlich die Gewinne der Unternehmen.
Die schwierige Lage der Branche ist nicht nur auf massive Preissteigerungen und VersorgungsengpĂ€sse bei Strom- und Gas zurĂŒckfĂŒhren. Zum bestehenden Kostenproblem kommt ein Nachfragemangel: Vielen Chemieunternehmen fehlen mittlerweile die AuftrĂ€ge. Denn die Wirtschaft ist inzwischen weltweit im Abschwung. Das belastet nicht nur die Exporte, auch im InlandsgeschĂ€ft bekommen die Unternehmen die wirtschaftliche SchwĂ€che zunehmend zu spĂŒren. Dabei sind die RĂŒckschlĂ€ge nicht allein auf die energieintensiven Industrien beschrĂ€nkt. Zunehmend kĂ€mpfen auch andere Branchen mit den Folgen der Inflation und steigenden Zinsen.
Dass der befĂŒrchtete massive Einbruch der deutschen Wirtschaft ausgeblieben ist, liegt vor allem daran, dass eine akute Gasmangellage und ein Blackout verhindert werden konnten. Einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung leisteten dabei die energieintensiven Industrien, indem sie ihre Produktion drosselten und dadurch viel Gas und Energie einsparten. Zudem war der Winter ungewöhnlich warm. Mittlerweile sind auch neue LNG-Terminals einsatzbereit, sodass Deutschland seine Gaslieferungen weiter diversifizieren kann.
2023 bleibt schwierig
Die deutlich gesunkenen Energie- und Rohstoffpreise der vergangenen Monate dĂŒrften die Situation im ersten Quartal 2023 stabilisieren. Das spiegelt sich auch in einem zuversichtlicher werdenden GeschĂ€ftsklima wider. Doch GroĂe Entrup warnt: "Auch wenn sich die Stimmung aufhellt, die Sorgen bleiben und anders als in der Pandemie oder der Weltwirtschaftskrise wird es diesmal keine kraftvolle Erholung geben."
Folgende vier Faktoren sprechen dagegen:
1. Die Inflation wird ĂŒber mehrere Jahre erhalten bleiben.
2. Die SchwÀche der Weltwirtschaft setzt sich fort.
3. Die Energiekrise in Deutschland und Europa ist noch nicht gelöst.
4. Deutschland hat ein massives Standortproblem.
Eine genaue Prognose ist angesichts volatiler Rahmenbedingungen weiterhin schwierig. Der VCI rechnet fĂŒr das Gesamtjahr 2023 mit einem ProduktionsrĂŒckgang von rund 5 Prozent. Rechnet man das PharmageschĂ€ft heraus, dĂŒrfte die Produktion in diesem Jahr 8 Prozent niedriger liegen als 2022. Bei rĂŒcklĂ€ufigen Preisen wird der Branchenumsatz in diesem Jahr voraussichtlich um gut 7 Prozent sinken.
Neuordnung im ChemiegeschÀft
Welche Auswirkungen die aktuellen Entwicklungen auf die Unternehmensstrategien haben, zeigt eine Mitgliederbefragung des VCI. Viele Unternehmen planen, die Energieversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen, unter anderem durch Investitionen in die Eigenerzeugung (zum Beispiel Solaranlagen oder Windparks) und energieeffiziente Produktionsverfahren. Ziel ist es, die nachhaltige Transformation weiter zu beschleunigen. Knapp 70 Prozent der Unternehmen gaben an, ihre AbhĂ€ngigkeit von Vorprodukten aus LĂ€ndern mit hohem Risikopotenzial reduzieren zu wollen und ihre Lieferketten global zu diversifizieren. Zwar stellt fast jedes zweite Unternehmen seine Globalisierungsstrategie auf den PrĂŒfstand, doch unterm Strich bleibt es dabei, dass die Unternehmen vom globalen Wachstum sowohl durch Exporte als auch durch Produktion vor Ort profitieren möchten.
FĂŒr die deutsche Chemieindustrie wird entscheidend sein, wie sich Kostenstrukturen und Energiepreise mittelfristig einpendeln. Erst dann wird man sehen, welche Anlagen hierzulande noch rentabel betrieben werden können. Es wird zu einem Strukturwandel kommen, denn nicht alle Produktionsanlagen, die im Zuge der Energiekrise stillgelegt wurden, werden wieder ans Netz gehen.
Industriepolitische Weichen fĂŒr die Zukunft stellen
Schnelles Handeln ist gefragt, denn der globale Wettbewerb um die MĂ€rkte der Zukunft hat lĂ€ngst begonnen. "Unsere Branche kann einen Strukturwandel meistern, Wertschöpfung in Deutschland erhalten und die Versorgung der Industrie mit innovativen und nachhaltigen Materialien sicherstellen", erklĂ€rt Wolfgang GroĂe Entrup. Dazu braucht es jetzt ein industriepolitisches Sofortprogramm. "Heute werden die Weichen dafĂŒr gestellt, dass der Industriestandort Deutschland und Europa wieder gestĂ€rkt wird und der Klimaschutz hier und weltweit vorankommt."
Deshalb setzt sich der VCI fĂŒr folgende Punkte ein:
- FĂŒr eine wettbewerbsfĂ€hige Stromversorgung mĂŒssen weiterhin alle EnergietrĂ€ger ans Netz. Gleichzeitig muss der Ausbau erneuerbarer Energien sowie der Netzinfrastruktur und Speichersysteme massiv vorangetrieben werden. Das allein wird aber nicht ausreichen. Es braucht einen Industriestrompreis, um der Wirtschaft Planungssicherheit fĂŒr die erfolgreiche Transformation zu bieten.
- FĂŒr ein starkes und wettbewerbsfĂ€higes Europa braucht es einen industriepolitischen Neustart. Statt mit Verboten, GrenzwertverschĂ€rfungen und Regulierung fĂŒr Planungs-, Rechts- und Investitionsunsicherheiten zu sorgen, braucht es bessere Governance und Priorisierung. Der Fokus muss auf nachhaltiges Wachstum gelegt werden.
- FĂŒr Freihandel statt Protektionismus: Von CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) ĂŒber das Lieferkettengesetz bis hin zum Ăkodesign - viele Regulierungen stoĂen unsere Handelspartner vor den Kopf. Das verteuert Importe, lenkt Handelsströme von Europa weg und schneidet uns die Rohstoffzufuhr ab. Besser wĂ€re es aus unserer Sicht, sich mit den Handelspartnern im Rahmen von Freihandelsabkommen auf gemeinsame Regeln fĂŒr den Handel zu verstĂ€ndigen.
Quelle und Kontaktadresse:
Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI)
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