Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan: Regierung verursacht Kommunikationschaos
(Berlin) - Reporter ohne Grenzen glaubt nicht an einen Erfolg des Programms in seiner jetzigen Form, solange die Bundesregierung es nicht in Richtung grundlegender Kernforderungen anpasst. Diese sind:
- Einrichtung einer Koordinierungsstelle als zentraler Anlaufstelle.
- Klare und verlässliche Aussagen seitens der Bundesregierung, wann das
Programm vollumfänglich startet und mit welchen zeitlichen Abläufen die
Betroffenen planen müssen.
- Aufnahme von Medienschaffenden, die in Drittstaaten festsitzen, in das
Aufnahmeprogramm.
- Ausstellung humanitärer Visa nach § 22 S. 2 AufenthG für akut
Gefährdete.
"Es macht uns wütend und traurig, dass wir afghanische Medienschaffende nun einmal mehr vertrösten müssen. Sie können sich dafür bei der Bundesregierung bedanken", sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. "Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, die Koalition nicht. Es muss endlich und schnellstmöglich eine zentrale Anlaufstelle geben, an die afghanische Schutzbedürftige sich wenden können und bei der sie eine Erstberatung erhalten." Nur dann können die Anliegen nach Tätigkeitsbereich, Vulnerabilität und Gefährdung der Betroffenen gesichtet, geordnet und seitens der zuständigen zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt werden.
Der Grund für das Chaos ist, dass die Bundesregierung am 17. Oktober zwar offiziell den Start des Aufnahmeprogramms verkündet hat, der eigens dafür geschaffenen Koordinierungsstelle jedoch noch immer kein grünes Licht für ein Informationsportal gegeben hat. Weder eine Hotline noch eine zentrale Antragsmaske waren freigeschaltet. Betroffene suchten auf der von Auswärtigem Amt und Bundesinnenministerium eigens für das Programm erstellten Webseite anfangs vergeblich nach Informationen auf Dari oder Paschtu. Die Seite war zu Beginn nur auf Deutsch verfügbar, nicht einmal auf Englisch, und ist in für Betroffene relevanten Passagen unklar und vage formuliert.
Hilfsgesuche aus allen Richtungen
Das Fehlen einer zentralen Anlaufstelle und die Ankündigung von 1.000 Aufnahmen pro Monat, die sich in Windeseile im Land verbreitete, führten dazu, dass sich zunehmend auch verzweifelte Menschen aus Afghanistan an RSF gewendet haben, die nicht unter das Mandat der Organisation fallen. "Bei uns haben sich Polizisten, Künstlerinnen, Aktivisten und sogar Schulmädchen gemeldet, von denen viele bedroht sind und Schutz suchen", sagte Mihr.
Reporter ohne Grenzen setzt sich gern und mit allen Kräften für den Personenkreis der Journalistinnen und Journalisten ein, die aufgrund ihrer Arbeit verfolgt werden, und hat speziell für das neue Programm auch technische und personelle Ressourcen geschaffen. Für weitere Personengruppen sind andere Organisationen zuständig.
Unerwünschte Folgen
Das Kommunikationschaos und die fehlenden Anlaufstellen fördern in Afghanistan immer mehr unkonventionelle Ideen und Methoden, um dem Ziel einer Ausreise näherzukommen. So gehen zunehmend Mitgliedschaftsanträge und sogar Spenden aus Afghanistan bei RSF ein, wohl in der Hoffnung, als Mitglied bessere Chancen auf Evakuierung zu haben.
Wie Medienschaffende vor Ort RSF weiterhin berichten, erhalten sie beispielsweise Angebote, Papiere zu kaufen, die sie als Journalistinnen oder Reporter ausweisen. Ob diese von wohlmeinenden Fluchthelfern, von gerissenen Geschäftsleuten oder gefährlichen Kriminellen ausgehen, ist nicht immer ersichtlich.
Angesichts der oft lebensgefährlichen und ökonomisch aussichtslosen Lage ist es zwar nachvollziehbar, wenn Menschen diese Angebote annehmen. Doch da sie nicht zum Ziel führen und mitunter mit Gefahren verbunden sind, warnt RSF Betroffene dringend davor, auf derartige Angebote hereinzufallen. Für die ohnehin intensive Verifizierungsarbeit von RSF bedeutet das: Zu der großen Zahl berechtigter Anträge und Dubletten, weil Betroffene sich bei verschiedenen NGOs parallel bewerben, kommen nun auch noch gefälschte Unterlagen hinzu.
Akut Betroffene müssen humanitäre Visa erhalten
Die Äußerung der Bundesregierung, das Aufnahmeprogramm sei zum jetzigen Zeitpunkt ja noch nicht für alle Schutzsuchenden geöffnet, löst das Problem nicht. Im Gegenteil, die Unklarheit über genauen Verlauf, Kriterien und Meldemöglichkeiten verstärken den Druck, schnell handeln zu müssen.
Zudem ist es für das RSF-Team sehr schwer, den Betroffenen zu vermitteln, dass das Programm zwar den am stärksten gefährdeten Menschen helfen soll, gleichzeitig aber der gesamte Prozess bis zu einer eventuellen Ausreise höchst langwierig und ungewiss sein wird. Auch daher rührt der nachvollziehbare Druck, dass jede und jeder Betroffene nun möglichst schnell ins Programm möchte. Auch im vergangenen Jahr wurden die humanitären Aufnahmelisten unverhofft geschlossen - die Menschen haben die verständliche Sorge, ihre einzige Hoffnung auf Rettung könnte sich erneut ohne Vorwarnung zerschlagen. RSF erneuert deshalb die Forderung, dass es für akut bedrohte Personen weiterhin Aufnahmezusagen nach § 22 S. 2 AufenthG geben muss.
Undurchsichtiger Prozess
Darüber hinaus herrscht bei Betroffenen und in der Zivilgesellschaft nach wie vor Kritik am intransparenten Auswahlverfahren des Bundesaufnahmeprogramms. Die Bundesregierung, die offenbar unter Druck steht, schnelle Erfolge zu präsentieren, hat ein nicht öffentlich einsehbares Online-Tool entwickelt, in das zivilgesellschaftliche Organisationen einzelne Fälle eintragen sollen. Entgegen der dringenden Empfehlung von RSF wurde das Tool vor dem Start des Programms nicht getestet.
Hilfsanfragen, die zunächst bei Organisationen wie RSF eingehen, sollen diese nach der Verifizierung der individuellen Bedrohung in einem aufwändigen Prozess in das Tool der Bundesregierung übertragen. Damit bringt die Ampelregierung die Zivilgesellschaft, die selbstverständlich unterstützend zur Seite steht, in die unangenehme Rolle der "Gatekeeper". Denn die Ministerien wälzen die Verantwortung, eine Vorauswahl zu treffen, auf NGOs ab.
Zugleich werden ohne Zugang zu einer offenen Koordinierungsstelle unabhängige Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft vom Prozess ausgeschlossen. Die berechtigte Kritik daran: Das Programm sei nur für international gut vernetzte Personen zugänglich. Dieses Problem hatte sich bereits in der unter extremem Zeitdruck zusammengestellten Menschenrechtsliste von 2021 herauskristallisiert, sollte aber nun mit ausreichender Planung nicht wiederholt werden.
Darüber hinaus ist bis heute unklar, nach welchen Kriterien die Bundesregierung die von ihr angekündigten 1000 Personen pro Monat letztlich auswählen will. RSF sieht sich deshalb außerstande, Betroffene bei ihren Anträgen adäquat zu unterstützen. Am Ende trifft ein rein computerbasiertes Scoring-System die Entscheidung darüber, wer Schutz erhält. Dies wird den komplexen individuellen Biografien gefährdeter Menschen nicht gerecht.
Schutz für Geflüchtete in Drittländern
Bereits wenige Tage nachdem die Taliban Kabul überrannten, rieten Mitarbeitende der Bundesregierung afghanischen Medienschaffenden auf Arbeitsebene, schnellstmöglich in die Nachbarländer auszureisen. Vor allem höchst gefährdete Journalistinnen und Journalisten, die damit rechnen mussten, als erste unter der Repression der Taliban zu leiden, folgten diesem Rat der Bundesregierung und flüchteten, zumeist nach Pakistan.
Genau diese Gruppe schließt das Bundesaufnahmeprogramm nun aus. Sie können sich weder bewerben, um bald nach Deutschland weiterzureisen, noch in den Drittländern journalistisch arbeiten, da ihr rechtlicher Status dies dort nicht gestattet. Aus Sicherheitsgründen rät RSF dringend davon ab, in der Hoffnung auf einen Platz im Bundesaufnahmeprogramm nach Afghanistan zurückzukehren.
Stattdessen fordert die Organisation die Bundesregierung dazu auf, das Bundesaufnahmeprogramm unverzüglich auch für diese Zielgruppe höchst gefährdeter Medienschaffender zu öffnen, etwa mit einer Stichtagsregelung: Beispielsweise könnten alle Medienschaffenden, die nach dem 15. August 2021 in Nachbarländer ausgereist sind, im Aufnahmeprogramm berücksichtigt werden. Oder sie könnten im Sinne einer Härtefallregelung in einem klaren, zügig umzusetzenden Verfahren humanitäre Visa nach § 22 S. 2 AufenthG für besonders gefährdete Personen erhalten.
Nicht vergessen werden sollte, warum die Bundesregierung überhaupt für den Schutz afghanischer Medienschaffender und anderer bedrohter Menschen verantwortlich ist. So war es der Einsatz der deutschen Bundeswehr und anderer deutscher Organisationen im Land, der deren afghanische Ortskräfte, darunter auch Journalistinnen und Journalisten, zu Feinden der anti-westlichen Taliban machte.
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Reporter ohne Grenzen e.V. (RSF)
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