Arztpraxen sind nicht die Beta-Tester für ein gescheitertes Digitalisierungsprojekt
(Essen) - Wenn am 24. Mai der 126. Deutsche Ärztetag (DÄT) in Bremen beginnt, wird sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) einer nachgerade frustrierten Ärzteschaft gegenübersehen. Denn nach zwei Jahren Stress und Belastung durch die Coronapandemie soll die Einführung der umstrittenen Telematikinfrastruktur (TI) nun in die heiße Phase gehen. Nach dem Willen des Ministers und des mit der Umsetzung der Digitalisierung im Gesundheitswesen beauftragten Unternehmens Gematik sollen mehrere Anwendungen nach langen Verschiebungen ins Rollen kommen: die elektronische Patientenakte (ePA), das elektronische Rezept (eRezept) und die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Hinzu kommt der Austausch der Konnektoren in den Arztpraxen und die Anwendung der KIM-Dienste.
Eine Panne jagt die nächste
Allerdings jagt eine Panne die nächste, wie sich in der jüngsten Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zeigt. Die Infrastruktur fällt ständig aus, die KIM-Anbindungen laufen nicht, Kartenlesegeräte stürzen ab und legen die Praxen lahm. Der IT-Support ist mangelhaft, einzelne Dienstleister raten ihren Kunden gar, das Ganze wieder abzustöpseln. "Das ist eine einzige Serie aus Pleiten, Pech und Pannen", sagt Dr. Silke Lüder, niedergelassene Allgemeinärztin aus Hamburg und Vizevorsitzende der Freien Ärzteschaft (FÄ). Jede neu eingeführte Anwendung führe zu Doppelarbeit, Verlust an Zuwendungszeit für die Patienten und erhöhtem Papierverbrauch in den Praxen. "Das wiederum ist die Folge davon, dass die Gematik nicht in der Lage war, die Massenanwendungen zunächst in bundesweiten Feldtests zu prüfen, bevor sie den Praxen übergestülpt werden", so Lüder. "Diese Probleme sind dem Gesundheitsminister alle bekannt, wie er kürzlich in einer Onlineveranstaltung selbst bekannte. Auch er ist der Meinung, dass weder e -Rezept noch e-AU bisher irgendeine Verbesserung für die Arztpraxen mit sich bringen. Doch selbst diese Erkenntnis hält das Drama nicht auf. Die Gematik und die interessierten Lobbyisten pushen das Projekt einfach weiter."
Verstoß gegen informationelle Selbstbestimmung der Patienten
Weil die Sicherheitszertifikate nach fünf Jahren ab dem Jahr 2022 auslaufen, müssen alle Konnektoren in Praxen und Kliniken für hunderte Millionen Euro ausgetauscht werden, "von Extrakosten, und Arbeitszeitverlusten ganz zu schweigen", sagte FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich am Montag in Bremen. Allein der Austausch von 63.000 Konnektoren der größten Softwarefirma soll 147 Millionen Euro kosten. "Wer ist eigentlich dafür verantwortlich?". Für Dietrich kommen die Gegebenheiten einer Veruntreuung von Versichertengeldern gleich. Er beklagt, dass das Gesundheitswesen schon lange zur Cash Cow für die Firmen mutiert. "Anstatt endlich die Reißleine zu ziehen, propagiert Lauterbach jetzt die schnelle Einführung der ePA. Für diese Anwendung interessieren sich bislang so wenige Patienten, dass es zur Rettung des Projektes der Festlegung im Koalitionsvertrag bedarf, wonach es eine verpflichtende ePA ab der Geburt geben soll. Das hat mit der lange versprochenen Freiwilligkeit der ePA für die Versicherten nichts mehr zu tun, verstößt offen gegen die informationelle Selbstbestimmung der Patienten und wird letztlich nur der Industrie als Datenpool dienen", so Dietrich weiter.
Stopp an Politik und Gematik nötig
Laut Freier Ärzteschaft sind die Delegierten des Deutschen Ärztetages aufgerufen, ein klares Stopp an Politik und Gematik zu senden. "Die ärztliche Schweigepflicht ist nicht verhandelbar und die Krankheitsdaten unserer Patienten sind keine Handelsware", betont Silke Lüder. "Für die elektronische Patientenakte muss unverändert ein ,Opt-In' gelten. Zudem müssen alle Sanktionen bei Nichtanschluss an die TI wegfallen".
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