Pressemitteilung | Marburger Bund - Landesverband Niedersachsen e.V.

Ärzt*innen-Umfrage in Niedersachsen: Alarmierende Belastungen

(Hannover) - Überlastung, fehlendes Personal, Bürokratiewahn und zunehmende Gewalt - die Arbeitsbedingungen der niedersächsischen Krankenhausärzt*innen spitzen sich immer mehr zu. Laut der aktuellen Mitgliederbefragung MB-Monitor 2024 des Marburger Bundes denkt mittlerweile jede*r vierte Ärzt*in in Niedersachsen (26 %) über einen Berufswechsel nach – vier Prozent mehr als 2022. Weitere 16 Prozent sind unentschlossen. Damit schließen insgesamt über 40 Prozent einen Ausstieg aus dem ärztlichen Beruf nicht aus.

Die Hauptgründe für den Frust: zu hohe Arbeitsbelastung (76 %), eine Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch an den Beruf und der Realität (69 %) sowie zu wenig Zeit für Patient*innen (49 %). In der größten Ärzteumfrage des Landes befragte das Institut für Qualitätsmessung und Evaluation (IQME) im Auftrag des Marburger Bundes im vergangenen Herbst 1300 angestellte niedersächsische Ärzt*innen aus allen Bereichen des Gesundheitswesens. Hiervon arbeiten 82 Prozent in Krankenhäusern, 9 Prozent in ambulanten Einrichtungen.

„Die Ergebnisse des MB-Monitors sind erschreckend und spiegeln die unzumutbare Realität in unseren niedersächsischen Kliniken wider. Trotz immenser Belastungen werden weiter ärztliche Stellen abgebaut, und es fehlt weitestgehend an Entlastung für das vorhandene Personal. Schon jetzt herrscht ein ernster Mangel an Ärzt*innen, der sich künftig mit Renteneintritt der Babyboomer noch eklatant verstärken wird“, warnt Hans Martin Wollenberg, Erster Vorsitzender des Marburger Bundes Niedersachsen. Wollenberg betont: „Das Gesundheitssystem braucht eine tiefgreifende Reform – insbesondere bei den Personalvorgaben, der Krankenhausfinanzierung und der Schaffung zusätzlicher Studienplätze. Wir können keine Zustände tolerieren, die unsere Kolleg*innen aus Frust und Erschöpfung in die Berufsflucht treiben!“

Fast 60 % sind häufig überlastet

Besonders besorgniserregend: fast 60 Prozent der Befragten fühlen sich häufig oder ständig überlastet (48 % bzw. 10 %)! Fast 60 Prozent bewerten die ärztliche Personaldecke in ihrer Einrichtung als unzureichend (43 %: eher schlecht, 15 %: schlecht). Gleichzeitig berichten 41 Prozent von Stellenabbau im ärztlichen Bereich.

Auch bei den Arbeitszeiten klaffen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander: die durchschnittliche Wochenarbeitszeit liegt bei 47,6 Stunden – der Wunsch der Befragten hingegen bei 37,2 Stunden. Fast die Hälfte (47 %) arbeitet mehr als 49 Stunden pro Woche, während Zeiterfassungssysteme oft unzureichend sind: Nur 46 Prozent berichten von einer elektronischen Erfassung, 30 Prozent dokumentieren ihre Arbeitszeit handschriftlich, und 23 Prozent geben an, dass ihre Arbeitszeit gar nicht systematisch erfasst wird.

Inzwischen arbeiten fast 40 Prozent (37 %, 2022: 31 %) der Ärzt*innen in Teilzeit – was für 58 Prozent eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit zwischen 29 und 39 Stunden bedeutet. „Oft ist dies der verzweifelte Versuch, einen Weg zu finden, die Belastung einzudämmen und Beruf und Familie doch irgendwie unter einen Hut zu bringen. Mit noch hinzukommenden Dienst- und Überstunden kommt man häufig nur durch die Arbeitszeitreduktion auf eine 40 Stunden-Woche“, weiß Wollenberg. Einen Lichtblick hingegen stellt die Zusammenarbeit zwischen ärztlichen und nicht-ärztlichen Teammitgliedern dar: Der Großteil (84 %) beurteilt diese als sehr gut bis eher gut.

Bürokratie raubt Patient*innenzeit

Zeitfressende Bürokratie und defizitäre Digitalisierung hingegen belasten die Ärzt*innen weiterhin massiv: Rund ein Drittel der Befragten verliert täglich vier Stunden oder mehr durch Verwaltungsaufgaben. Die IT-Ausstattung wird von über 60 Prozent als unzureichend bewertet. Mehrfacheingaben identischer Daten kommen bei 47 Prozent häufig vor, 2022 lag die Zahl noch bei 26 Prozent. „Die ausufernde Bürokratie raubt uns die Zeit für unsere Patient*innen. Wir werden am Patient*innenbett gebraucht, nicht am Schreibtisch. Hinzu kommt eine IT-Infrastruktur, die nicht auf der Höhe der Zeit ist. Deutschlands Gesundheitssystem gleicht oft einer Digitalisierungswüste“, kritisiert Andreas Hammerschmidt, Zweiter Vorsitzender des Marburger Bundes Niedersachsen.

Gewalt gegen Ärzt*innen nimmt zu

Auch zunehmende Gewalt verschärft die Situation: 40 Prozent berichten, dass sich ihre Gewalterfahrungen in den letzten fünf Jahren verstärkt haben. Beinahe 90 Prozent kennen verbale Gewalt am Arbeitsplatz (11 % häufig, 32 % manchmal, 44 % selten). Mehr als jede*r Zweite erlebt körperliche Gewalt am Arbeitsplatz (2 % häufig, 9 % manchmal, 43 % selten), insbesondere in Notaufnahmen (39 %) und im stationären Bereich (35 %). Alarmierend: Rund 40 Prozent (42 %) geben an, dass es an ihrem Arbeitsplatz keine Schutzmaßnahmen gegen Gewalt gibt. Zudem erhalten betroffene Ärzt*innen oft nur wenig Unterstützung: Ob es an ihrer Einrichtung für Ärzt*innen Unterstützungs- und Nachsorgeangebote nach Gewalterfahrungen gibt, können lediglich 18 Prozent klar bejahen.

„Das Klima ist definitiv rauer und aggressiver geworden“, berichtet Hammerschmidt. Als Oberarzt in der Zentralen Notaufnahme eines Schwerpunktversorgers weiß er: „Viele Ärzt*innen erleben heute im Klinikalltag nicht nur die immense Arbeitsbelastung, sondern auch verbale und körperliche Gewalt. Es ist völlig inakzeptabel, dass diejenigen, die anderen helfen, teilweise selbst in Angst zur Arbeit gehen müssen oder gar Opfer von Gewalt werden. Wir brauchen klare Schutzkonzepte, Gefährdungsanalysen und gezielte Schulungen – und hier ist nicht nur jede Einrichtung, sondern auch die Politik gefordert!“

Quelle und Kontaktadresse:
Marburger Bund - Landesverband Niedersachsen e.V., Schiffgraben 22, 30175 Hannover, Telefon: 0511 543066-0

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