Pressemitteilung | Institut Arbeit und Technik

Chancen für einen Neuanfang der Gewerkschaften in der Dienstleistungsgesellschaft

(Gelsenkirchen) - Wenn die Gewerkschaften ihren Standort in der Dienstleistungsgesellschaft nicht neu bestimmen, werden sie als Fossilien des Industriezeitalters in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die Fusion der Dienstleistungsgewerkschaften zu "Ver.di" ist ein erster Schritt zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben, stellt Prof. Dr. Gerhard Bosch, Vizepräsident des Instituts Arbeit und Technik (IAT/Gelsenkirchen) in einer Analyse zur Situation der Gewerkschaften beim Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft fest. "Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Gewerkschaften ihre Kräfte beim Schutz ihrer Mitglieder verschleißen, die knappen Ressourcen im Konkurrenzkampf um Mitgliederzahlen aufbrauchen und zu den eigentlichen gesellschaftspolitischen Gestaltungsaufgaben gar nicht mehr kommen".

Über Ver.di hinaus sind Kooperationen auch mit den Industriegewerkschaften in Fragen der Organisations- und Tarifpolitik erforderlich. Auf Dauer reichen aber Zusammenschlüsse der Gewerkschaften und Kooperationsvereinbarungen nicht aus. "Die Gewerkschaften müssten über alle Branchengrenzen hinweg durch einen bundesweiten Basistarifvertrag Mindestlöhne und Mindestarbeitsbedingungen festlegen, die immer dann gelten, wenn kein anderer Tarifvertrag greift," fordert Bosch. In Bereichen ohne Tarifbindung werden heute zum Teil Stundenlöhne unter 10 DM gezahlt, was selbst unter dem US-amerikanischen Mindestlohn liegt.

Der Strukturwandel der letzten Jahrzehnte hat zu starken Beschäftigungsverlusten bei den Arbeitern (1998 noch 35,4 Prozent der abhängig Beschäftigten) und starken Gewinnen bei den Angestellten (1998 fast 60 Prozent) geführt. Die DGB-Gewerkschaften haben den wirtschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte nicht mitvollzoge n. Die Struktur ihrer Mitgliedschaft entspricht der Industriestruktur der 50er Jahre. Rund 60 Prozent aller Mitglieder sind Arbeiter. Nur 30 Prozent der Mitglieder sind Frauen, obgleich sie bereits mehr als 40 Prozent der abhängig Beschäftigten ausmachen. Im verarbeitenden Gewerbe ist fast die Hälfte aller Beschäftigten in einer Gewerkschaft organisiert, im Finanzsektor und im Handel sind es hingegen nur etwa 12 Prozent – mit fallender Tendenz. In vielen neuen Branchen sind die Gewerkschaften fast nicht präsent.

Doch es bestehen gute Chancen für einen Neuanfang, wenn sich die Gewerkschaften gezielt in die Entwicklung des Dienstleistungssektors einbringen, rät der Arbeitsmarktexperte Bosch. Denn dass eine Expansion der Dienstleistungen nur durch billige Arbeit und zunehmende soziale Ungleichheit nach amerikanischem Vorbild möglich sei, ist mehr als fraglich. Eine expansive Geld- und Finanzpolitik war mindestens ebenso nötig für den amerikanischen Beschäftigungserfolg. In Europa beweisen die skandinavischen Länder und die Niederlande, dass mit starken Gewerkschaften und einem hohen Maß an sozialer Gleichheit der Dienstleistungssektor weit entwickelt und die Arbeitslosenquoten auf niedrigen Niveau gehalten werden können.

Großorganisationen wie Ver.di müssen aus unterschiedlichen Einzelforderungen und Fachpolitiken - für die Verkäuferin oder den Banker, den Lagerarbeiter oder den Programmierer - eine Identität und eine Linie entwickeln. Der Dienstleistungssektor wird durch Innovation, Bildung, höhere Wohlfahrt und eine steigende Frauenerwerbstätigkeit wachsen. Das müssen zentrale Themen für die Gewerkschaften sein. Die Gewerkschaften müssen wieder zu "Experten des Arbeitsprozesses" werden, rät Bosch. Gerade weil Qualität der Arbeit und Arbeitsbedingungen so eng zusammenhängen, müssen die Gewerkschaften sich für alles, was die Qualität der Dienstleistungen verbessert, einsetzen, also für die sinnvolle Nutzung neuer Technologien, effiziente Formen der Arbeitsorganisation oder eine gute berufliche Aus- und Weiterbildung. "Das deutsche Modell der industriellen Beziehungen lässt sich nicht mit Besitzstandsverteidigung, sondern nur durch die Modernisierung seiner Wirtschaft aufrechterhalten", so Bosch.

Die Vielfalt des Dienstleistungssektors macht die gewerkschaftliche Arbeit nicht einfach. Zwischen den Arbeitsbedingungen von geringfügig Beschäftigten im Einzelhandel und von Softwarespezialisten liegen Welten. Vor allem in den Niedriglohnbereichen ist die traditionelle gewerkschaftliche Schutzfunktion gefordert - angemessene Bezahlung, Schutz vor einseitiger Festlegung der Arbeitszeit, Beschäftigungssicherheit und Interessenvertretung durch Betriebsrät e und Gewerkschaften stehen im Vordergrund. Bei den anderen geht es um den Schutz vor überlangen Arbeitszeiten, aber auch um Fragen der Gehaltsfindung, Karrieregestaltung und Weiterbildung. Die Gewerkschaften werden hier vor allem in ihrer Gestaltungsfunktion gefordert. Zunehmend sind nicht mehr nur Einzelbedingungen der Arbeit zu regeln, sondern mehr Rahmenbedingungen für teilautonomes Handeln zu setzen, wie etwa bei Gruppenarbeit. Durch die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit werden die sozialen Rahmenbedingungen der Erwerbsarbeit - die Vereinbarkeit von Familie und Beruf - immer wichtiger. Hier sind die Gewerkschaften in ihrer gesellschaftlichen Rolle über den Arbeitsprozess hinaus gefordert.

Quelle und Kontaktadresse:
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